Rassismus in Praxis und Klinik: Bericht des Menschenrechts-, Rassismus- und Diskriminierungsbeauftragten der Landesärztekammer Hessen

Dr. med. Ernst Girth

Seit 2020 hat die Landesärztekammer Hessen (LÄKH) die Zuständigkeit des Menschenrechtsbeauftragten um Rassismus und Diskriminierung erweitert. Es ist daher an der Zeit, den Kolleginnen und Kollegen einen ersten Einblick zu vermitteln, mit welchen Problemen ich seitdem konfrontiert bin.

Risikofaktor Rassismus

In einer Arbeit aus diesem Jahr im JAMA hat sich der amerikanische Sozialmediziner Dave A. Chokshi mit der medizinischen Problematik auseinandergesetzt, den Faktor Rasse bei verschiedenen Risiko-Parametern zu verwenden, z. B. erhöhtes Risiko bei Nierensuffizienz oder Covid-19 [1]. Er weist nach, dass durch das Ausklammern soziokultureller Faktoren völlig falsche Bilder entstehen. Wenn also beispielsweise schwarze Menschen mit akutem Herzinfarkt verglichen mit Weißen vermehrt in eine Normalabteilung statt in eine Cardiac Care Unit eingewiesen werden, dann ist nicht der Faktor Rasse für die erhöhte Sterblichkeit verantwortlich, sondern die gesellschaftlich bedingte Einweisungspraxis. Nicht Rasse, sondern Rassismus ist der Risikofaktor. Die grauenhafte pseudowissenschaftliche Etablierung des Konzepts von „Rasse“ und dessen nicht minder grauenhaften Folgen in unserem Land sind zwar hier nicht mein Thema, aber ohne den Kolonialismus und den Nationalsozialismus sind weder der manifeste Rassismus noch die Spuren zu verstehen, die in vielen von uns qua Erziehung als unreflektierter, latenter Rassismus fortbestehen. Der Philosoph Søren Kierkegaard hat das sehr prägnant auf den Punkt gebracht: „Verstehen kann man das Leben nur rückwärts, leben muss man es vorwärts.“

Auch wenn wir mit dem Glauben aufgewachsen sind, dass Wissenschaft Wissen schafft, vergessen wir allzu gern, dass Wissenschaft auch Mythen schafft, die leider oft schwer wieder aus der Welt und unseren Köpfen oder besser unserem – individuellen wie kollektiven – Unbewussten zu schaffen sind. Und das heißt: Rassismus ist ein medizinischer und vor allem ein gesellschaftlicher Risikofaktor.

Fortschritte für eine humane und soziale Medizin

Es ist 25 Jahre her, dass die LÄKH einen Menschenrechtsbeauftragten ernannt hat. Vorreiter war die Berliner Ärztekammer unter Dr. med. Ellis Huber [2] und seine „Fraktion Gesundheit“.

In Hessen hat dies die Liste Demokratischer Ärztinnen und Ärzte (LDÄÄ) gegen mannigfaltige Widerstände durchgesetzt. Heute hat jede Landesärztekammer eine(n) Menschenrechtsbeauftragte(n). 2020 kam der Vorschlag, einen Rassismusbeauftragten zu benennen, nicht von einer Liste, sondern mitten aus dem Präsidium der LÄKH. Das allein zeigt schon, dass sich in den vergangenen 25 Jahren sehr viel verändert hat und der Kampf für eine humane und soziale Medizin in der verfassten Ärzteschaft wesentlich breiter aufgestellt ist.

So sehr es mich gefreut hat, dass man mir antrug, dieses Amt zu übernehmen, dachte ich spontan, dass dieser neue Titel eigentlich überflüssig sei. Denn natürlich ist Rassismus ein Menschenrechtsproblem. Heute weiß ich, dass es richtig und wichtig war, das Thema Rassismus auch im Titel des Beauftragten zu nennen. Denn verglichen mit einer Handvoll Beschwerden über Rassismus in den 25 Jahren als Menschenrechtsbeauftragter sind es nach der Namenserweiterung in nur zwei Jahren etwa 40 Eingaben geworden.

Dabei glaube ich nicht, dass man daraus auf eine Zunahme des Rassismus in Praxen und Krankenhäusern schließen kann. Auch die internationale Fokussierung auf das Problem, wie die „Black Lives Matter“-Bewegung in den USA und das enorme bundesweite Presseecho auf die hessische Entscheidung erklären meines Erachtens die steigenden Beschwerdezahlen nicht ausreichend. Mir scheint eher, dass der Begriff „Menschenrechte“ für viele Menschen einfach zu abstrakt ist. Rassismus dagegen bedarf keiner weiteren Erklärung und ist in der Lebenswirklichkeit der Betroffenen eine traurige Realität. Aus vielen Zuschriften weiß ich, dass es für sie eine große Erleichterung war und ist, ernst genommen zu werden und einen ärztlichen Ansprechpartner für ihre Beschwerden zu finden.

Berufsordnung als Grundlage

Zu meinem Vorgehen schreibe ich den Betroffenen nach ihrer Eingabe Folgendes: „Vorab möchte ich Ihnen ein paar Gedanken mitteilen, die zur Einrichtung eines Rassismusbeauftragten bei der Landesärztekammer Hessen geführt haben. Es waren weniger Klagen oder Berichte über rassistische Vorfälle, als vielmehr die Überlegung, dass es so wie in der Gesamtbevölkerung auch unter Ärztinnen und Ärzten einen gewissen Prozentsatz rassistischer und fremdenfeindlicher Einstellungen geben wird und wir als Ärztekammer unseren Beitrag leisten wollen, dass sich alle hessischen ÄrztInnen immer an die in der Berufsordnung niedergelegten Rechte und Pflichten gegenüber PatientInnen halten. In dem Gelöbnis, das der Berufsordnung vorangestellt ist, heißt es unter anderem: „Ich werde nicht zulassen, dass Erwägungen von Alter, Krankheit oder Behinderung, Glaube, ethnischer Herkunft, Geschlecht, Staatsangehörigkeit, politischer Zugehörigkeit, Rasse, sexueller Orientierung, sozialer Stellung oder jeglicher anderer Faktoren zwischen meine Pflichten und meine Patientin oder meinen Patienten treten.“

Latenter Rassismus

Eine Patienten-Beschwerde lege ich dem oder der Beschuldigten zur Stellungnahme vor, um den Sachverhalt zu klären und bestenfalls mit beiden Parteien zu einer einvernehmlichen Lösung zu kommen. Gelingt das nicht, übergebe ich die Beschwerde der Rechtsabteilung der Landesärztekammer, die dann rechtliche Schritte prüfen wird.

Neben der erstaunlich großen Zahl der Beschwerden habe ich eine zweite wichtige Erfahrung gemacht, die sehr irritierend war. Da mir die Studienergebnisse über rechtsradikale und ausländerfeindliche Einstellungen in der Bevölkerung bekannt waren, habe ich auch in der Ärzteschaft mit einem nicht unerheblichen Anteil gerechnet. Dagegen war ich nach der Analyse der ersten Beschwerden zunächst eigentlich erleichtert und fand manches vielleicht übertrieben, zumindest aber die inkriminierte Situation nicht offensichtlich rassistisch. Mit zunehmender Erfahrung, Gesprächen mit Betroffenen und einer antirassistisch aktiven, muslimischen Kollegin sehe ich das heute ganz anders. Das, was ich anfangs noch als „nicht böse gemeint“ angesehen habe, war für die Betroffenen offensichtlich sehr schmerzhaft. Und doch haben sich praktisch alle KollegInnen als nicht rassistisch oder ausländerfeindlich beschrieben. Hier besteht eine offensichtliche Diskrepanz.

Gemeinsam gegen Ausländerfeindlichkeit und Rassismus

Diese aufzuklären ist nicht allein meine Aufgabe, das geht uns alle an. In vielen von uns, die wir uns auf die Seite der „Guten“ rechnen, steckt aus den genannten geschichtlichen und biografischen Gründen mehr Rassismus als wir wahrhaben wollen. Anhand folgender Beispiele kann die eigene Einstellung gut selbst überprüft werden.

Fallbeispiele

  • Eine Sozialarbeiterin begleitet eine junge kurdische Frau zur Beratung vor einem Schwangerschaftsabbruch. Die Ärztin doziert über die Minderwertigkeit der arabischen Sprachen. Im Gespräch mit der Bezirksärztekammer erfolgt eine Entschuldigung der Ärztin. Das Präsidium der Kammer verlangt trotzdem ein Ermittlungsverfahren.
  • Eine schlecht deutsch sprechende türkische Frau kommt zur Gynäkologin. Die Ärztin verweigert dem Ehemann die Begleitung in den Untersuchungsraum. Es kommt zum lautstarken Disput. Der Ehemann fragt, ob er sie richtig versteht und sie die Praxis verlassen sollen. Die Ärztin sagt: Ja, und ich wünsche Ihnen alles Gute. Darauf der Ehemann erregt: „Ich wünsche Ihnen nicht alles Gute.“ Die Ärztin sagt, ebenfalls erregt: „Aber ich bin eine christliche Ärztin und wünsche Ihnen trotzdem alles Gute.“ Sie erklärt später, der Ehemann habe sie durch seine Aggression so aus der Fassung gebracht, dass sie nur ihr christliches Ethos bekräftigen wollte.
  • Eine Patientin geht vom Wartezimmer eines MVZ auf die Toilette und findet bei der Rückkehr ihre Tochter nicht. Sie klopft an eine Tür und der Arzt schreit sie an: „Wir sind hier nicht auf einem türkischen Basar.“ Die MVZ-Leitung bietet ein Dreiergespräch mit Entschuldigung an. Die Patientin ist zufrieden, schreibt mir aber danach, weniger mit dem Arzt als mit der empathischen MVZ-Leiterin.
  • Ein türkischer Patient kommt mit Kind in eine Kinderarztpraxis, wird in das Untersuchungszimmer gebeten und muss dort 40 Minuten auf den Arzt warten. Das Kind bemalt mit Stiften Schreibtisch und Untersuchungsliege und schlägt mit dem Spielzeugauto auf die PC-Tastatur. Der Vater findet, das sei ein normales kindliches Verhalten. Der erregte Arzt verweist beide aus der Praxis. Der Vater geht zur einzigen lokalen Alternative, einer Kinderärztin, die keine neue Patienten aufnimmt, aber in dieser Situation eine Ausnahme macht. Er verlangt eine Krankmeldung für sich, da sich seine Frau nicht wohl fühlt und er das Kind in die sehr nahe Schule fahren muss. Die Ärztin verweigert dies und sagt: „ Aha, Taxifahrer! Und für 20 Minuten Autofahrt soll ich Sie den ganzen Tag krank schreiben? Dafür kann die Krankenkasse nicht aufkommen. Das ist Sozialbetrug.“
  • Ein Ehemann kommt mit seiner indischen, kein Deutsch, aber Englisch sprechenden Ehefrau zu einer Allgemeinärztin, die auf ihrer Website angibt, Englisch zu sprechen. Die Ärztin fragt so lange, warum sie kein Deutsch spreche und wie lange sie schon in Deutschland sei, und dass man in Deutschland Deutsch sprechen müsse, bis die Patientin in Tränen ausbricht, aufsteht und geht. Eine Frage nach dem Grund ihres Arztbesuchs wird bis dahin gar nicht gestellt.
  • Eine türkische Mutter kommt mit einer Kopftuch tragenden Tochter wegen eines Ausschlags auf der Wange in die Praxis. Die Ärztin hält das sehr stramm angelegte Kopftuch für die Ursache und versucht der Tochter das Kopftuch auszureden, sie würde damit ja aussehen wie eine alte Frau. Eine türkische Medizinische Fachangestellte (MFA) bestätigt Schnürfurchen durch das Kopftuch. Die Ärztin verneint glaubwürdig eine von der Mutter beklagte ausländerfeindliche Einstellung in ihrer Praxis mit hohem Ausländeranteil.
  • Ein türkischer Patient verlangt eine Krankmeldung für sich wegen einer Corona-Erkrankung der Ehefrau. Dies wird von Arzthelferin abgelehnt. Nach lautstarkem Protest sagt sie angeblich: „Wir sind hier nicht auf einem orientalischen Basar“, und ruft die Ärztin dazu. Um die Situation zu deeskalieren, schreibt sie eine Krankmeldung aus. Der Patient verlässt polternd die Praxis, zerreißt die Krankmeldung und wirft sie der Ärztin vor die Füße mit dem Satz: „Die können Sie sich in den A… stecken.“

Oftmals Aussage gegen Aussage

Natürlich gibt es auch noch eindeutigere Fälle mit klar rassistischer Wortwahl, die aber immer abgestritten wird, so dass Aussage gegen Aussage steht. Auch werden inkriminierte Äußerungen oft von MFA gemacht, die dann aber in der Regel von den Praxisinhabern geschützt werden. In solchen Fällen oder bei nicht kooperierenden KollegInnen kann ich die Vorfälle der Rechtsabteilung der Kammer übergeben, die dann einen Verstoß gegen die ärztliche Berufsordnung prüfen muss. Es ist interessant, dass es nur sehr selten Fälle aus Krankenhäusern gibt. Hier scheint die größere Öffentlichkeit einen gewissen Schutz vor rassistischen Äußerungen zu bieten.

Fazit

Ja, es gibt leider rassistische Einstellungen in medizinischen Einrichtungen und es ist gut, dass durch die Bestellung eines Rassismusbeauftragten etwas Licht auf einen bislang sehr abgeschotteten Bereich geworfen wird. Ich erlebe die Mehrheit der KollegInnen, die ein solches Verfahren durchlaufen müssen, als kooperativ und auch nachdenklich. Wobei es sicher nicht einfach ist, mit Patienten aus anderen Kulturkreisen und mit Sprachhindernissen – vor allem unter Stressbedingungen – so umzugehen, dass sie sich in ihren Bedürfnissen immer verstanden fühlen. Oft triggern Reizworte wie „Kopftuch“, „Basar“ oder der Satz „In Deutschland muss jeder Deutsch sprechen“ die alltagsrassistischen Erfahrungen der PatientInnen und setzen Erregungsspiralen in Gang.

Das Thema Rassismus in der Medizin stößt aktuell auf viel Interesse, vor allem in den Sozialwissenschaften. Ich erhoffe mir davon u. a., dass lange vernachlässigte Probleme wie beispielsweise die bessere Organisation und Bezahlung von Dolmetscherdiensten in den Fokus rücken. Bislang habe ich mich bewusst zurückgehalten mit schnellen Schlussfolgerungen und meinen Schwerpunkt auf die praktische Hilfe für alle Beteiligten gelegt. Der nächste Schritt wird sein, dieses Wissen zu systematisieren, zu analysieren und in Fortbildungen weiterzugeben.

Erst mal schauen, was ist, Vertrauen bei PatientInnen erarbeiten, deren Verletzungen ernst nehmen. Aber auch versuchen, die Ärztinnen und Ärzte zu verstehen. Unsere PatientInnen sind immer unterlegen, so sehr wir uns als Ärzte auch um Augenhöhe bemühen. Autorität müssen wir durch Wissen, Können und Empathie ausstrahlen, nicht durch Machtgebaren. Ungebührliches Verhalten von PatientInnen müssen wir nicht akzeptieren. Aber bevor wir in eine Verteidigungshaltung gehen, sollten wir versuchen zu verstehen, wodurch die Patientin oder der Patient sich rassistisch diskriminiert gefühlt hat.

Wir wissen, wie verletzlich und auch irrational wir selber sind, wenn wir krank werden. Wie viel ängstigender es ist, wenn man sich als Kranker nicht richtig ausdrücken kann und sich im wahrsten Sinne des Wortes nicht verstanden fühlt? Wenn es gelingt, eine schriftliche oder besser mündliche, ernst gemeinte Entschuldigung auszusprechen, führt dies meiner Erfahrung nach praktisch immer zu einer Befriedung.

Bestärkt hat mich in dieser Vorgehensweise das Buch „Zwei Enthüllungen über die Scham“ von Robert Pfaller [3]. Wir denken ja oft, die Konflikte um Rassismus lägen unter anderem im jeweiligen Anders-Sein. Pfaller zeigt aber, dass es durchaus ähnliche psychische Konstellationen sind, die hier aufeinanderprallen. In der gegenwärtigen „Abstiegsgesellschaft“ leiden immer mehr Menschen unter dem Gefühl, keinen Wert mehr für die Gesellschaft zu besitzen und ziehen sich zurück. Diese Empfindlichkeit mag für ÄrztInnen und die gesamte Gesellschaft relativ neu sein, für von Rassismus Betroffene ist es allerdings ein lange bekanntes Gefühl.

Umso mehr gilt für beide Seiten, was Christina Lenz in ihrer Rezension über Pfallers Buch [4] schreibt: „Alleine mit der Betonung des Opferseins, mit dem Beschämen anderer oder mit dem starren Beharren auf einem vermeintlich authentischen und verletzten Ich sind demnach keine emanzipatorischen Erfolge auf so wichtigen Gebieten wie Antirassismus oder Feminismus zu erzielen. Wer gesellschaftliche Ungleichheit bekämpfen will, muss sich ein Stück weit von seiner eigenen Befindlichkeit distanzieren können, es schaffen, sich mit anderen in einem gemeinsamen Diskurs zu verbinden und sich dazu aufraffen, Argumente auszutauschen.“

Wir brauchen die PatientInnen, sie brauchen uns. Leisten wir uns weniger Empfindlichkeit und mehr Empfindsamkeit! Die beiden Worte unterscheiden sich nur wenig. In der Alltagspraxis sind sie meilenweit voneinander entfernt.

Dr. med. Ernst Girth, Facharzt für Innere Medizin, Menschenrechts-, Rassismus- und Diskriminierungsbeauftragter der Landesärztekammer Hessen

Kontakt via E-Mail: menschenrechtsbeauftragter@laekh.de

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