Case report: Atypischer Verlauf eines muzinösen Adenokarzinoms der Appendix

Im Mai 2016 stellte sich der damals 57-jährige Patient mit einer symptomatischen Leistenhernie zur laparoskopischen Hernienreparation in einer auswärtigen Klinik vor. Bei der Laparoskopie wurde als Zufallsbefund eine bis dato symptomlose diffuse Peritonealkarzinose diagnostiziert. Makroskopisch war insbesondere das Colon sigmoideum aufgetrieben und tumorinfiltriert. Die Proben-Entnahme vom Mesenterium und parietalen Peritoneum wies histologisch Karzinominfiltrate durch einen CK20- und CDX2-positiven Tumor nach. Postoperativ erfolgten zum Staging ein CT Thorax/Abdomen, eine unauffällige Ösophago-Gastro-Duodenoskopie (ÖGD, Magenspiegelung) sowie eine Koloskopie, die am rektosigmoidalen Übergang eine schüsselförmige Ulzeration mit leichtgradiger Lumenstenosierung, vereinbar mit einem Sigmakarzinom, nachwies (siehe Abb.1).

Im auswärtigen interdisziplinären Tumorboard wurde bei angenommener Peritonealkarzinose durch ein Adenokarzinom des Colon sigmoideum nach Eingang des RAS-Status (siehe Kasten) eine palliative Chemotherapie mit Panitumumab und modifiziertem FOLFOX 6-Schema empfohlen und durchgeführt.

Erneute Vorstellung

Im September 2016 erfolgte ein Re-Staging mit Nachweis eines sehr guten Ansprechens der Therapie sowie eines abdominellen Tumorregresses. Der Patient wurde uns mit der Frage zur Durchführung einer maximal zytoreduktiven Chirurgie und HIPEC (hypertherme intraoperative intraperitoneale Chemotherapie1) vorgestellt. Bei gutem Ansprechen auf die Therapie und ausgeschlossener extraabdomineller Metastasierung haben wir uns nach Gabe zweier weiterer Zyklen der Chemotherapie im November 2016 zur Operation entschlossen.

Es erfolgte die Multiviszeralresektion mit tiefer anteriorer Rektumresektion unter Anlage eines protektiven doppelläufigen Ileostomas, eine Zwerchfellresektion und Anlage einer Thoraxdrainage rechts; eine Appendektomie und Cholezystektomie sowie die subtotale parietale Peritonektomie mit Resektion des Ligamentum falciforme , eine vollständige Omentektomie sowie die HIPEC mit Oxaliplatin 30 mg/m² KOF2 intraperitoneal sowie 400 mg 5-FU plus 20 mg Leukovorin/m² KOF i.v.

Histologisch wurde überraschenderweise ein muzinöses Adenokarzinom der Appendix vermiformis mit Wandperforation und muzinöser Peritonealkarzinose innerhalb und außerhalb des rechten unteren Abdominalquadranten nachgewiesen. Die Tumorformel lautete: pT4a pN0 (0/26 Lk) pM1a (PER) pL0 pV0 RX G2.

Weiterer Verlauf

Der postoperative Verlauf war komplikationslos und die Entlassung des Patienten erfolgte am 9. postoperativen Tag. Gemäß Empfehlung des interdisziplinären Tumorboards in unserem Hause wurde die systemische, nunmehr adjuvante Chemotherapie mit FOLFOX und Panitumumab bis Mai 2017 fortgesetzt. Nach komplikationsloser Rückverlagerung des doppelläufigen Ileostomas im Februar 2017 befand sich der Patient bis zum September 2019 in der onkologischen Nachsorge. Zu diesem Zeitpunkt wurde abdomensonografisch und CT-radiologisch ein solitäres Tumorrezidiv im Milzhilus mit begleitendem Tumormarkeranstieg nachgewiesen, sodass nach der präoperativen Vierfach-Immunisierung vor geplanter Splenektomie am 16.10.2019 die Relaparotomie mit En-bloc-Resektion von Pankreasschwanz und Milz sowie die erneute HIPEC mit Mitomycin C 30 mg/m² KOF erfolgten. Bei endoskopisch und intraoperativ fehlendem Tumornachweis am Zökum erfolgte keine Nachresektion der Primärtumorregion (siehe Abb. 2).

Der Patient wurde nach komplikationslosem Verlauf am 8. postoperativen Tag entlassen.

Im Tumorboard wurde nunmehr die Durchführung einer onkologischen Tumornachsorge empfohlen. Dieser unterzieht sich der Patient bis heute in viertel- bis halbjährlichen Abständen ohne erneuten Nachweis eines Tumorrezidivs. Der jetzt 63-jährige Patient befindet sich in sehr gutem Allgemeinzustand und ist voll berufstätig.

Diskussion

Ausschlaggebend für den positiven Verlauf in diesem Fall sind aus unserer Sicht mehrere Faktoren: Zum einen die konsequente Reevaluation der durchgeführten Therapie als „tailored approach” mit einer aussagekräftigen bildgebenden Diagnostik, zum anderen die Zusammenarbeit über Klinikgrenzen hinaus im Interesse des Patienten. Zwar ist initial die Diagnosesicherung histologisch nicht eindeutig erfolgt, da auch andere maligne Tumore CK20 und besonders CDX2 exprimieren können (muzinöse Malignome der Lunge, der Harnblase, des Ovars bzw. des Thymus [7]); insgesamt ist jedoch die Diagnosestellung eines peritoneal metastastasierten Sigmakarzinoms völlig nachvollziehbar.

Warum aber hat ein peritoneal metastasiertes muzinöses Appendixkarzinom so gut und langzeitig auf die in zunächst palliativer Intention vorgenommene Chemotherapie mit FOLFOX 6 und Panitumumab angesprochen, obwohl bekanntermaßen bei Appendixkarzinomen die systemische Chemotherapie des kolorektalen Karzinoms schlechter wirkt und Panitumumab als EGFR-Antikörper bei den linksseitigen Kolonkarzinomen eingesetzt wird?

Appendixkarzinome werden allgemein in vier Subtypen (colonic-type-adenocarcinoma, muzinöse Neoplasien, siegelringzellige Karzinome und neuroendokrine Neoplasien) eingeteilt. Bei den muzinösen Appendixneoplasien werden weitere Subtypen (LAMN3, HAMN, muzinöses Adenokarzinom, muzinöses Adenokarzinom mit Siegelringzellen, muzinöses Siegelringzellkarzinom) nach spezifischen histologischen Kriterien unterschieden [1].

Für Patienten mit disseminierter muzinöser Appendixneoplasie wurde das pathologische Grading als unabhängiger Prognosefaktor identifiziert. Patienten mit G2- oder G3-muzinösen Adenokarzinomen haben ein signifikant schlechteres Gesamtüberleben im Vergleich zu Patienten mit G1-Tumoren. Das Fünfjahres- Gesamtüberleben für Patienten mit G2-Karzinomen liegt zwischen 30–60 %.

Im Gegensatz zum pathologischen Grading spricht jedoch die systemische Chemotherapie bei G2- oder G3-muzinösen Adenokarzinomen besser an und verbessert das Gesamtüberleben. Für diese Patientengruppe wird auch explizit das Konzept der zytoreduktiven Chirurgie und HIPEC empfohlen [1, 2, 3, 4].

Interessanterweise wurde in diesem Fall unter der Annahme eines linksseitigen Kolonkarzinoms mit RAS-Wildtyp eine EGFR-Inhibition durch Panitumumab als humaner IgG2-Antikörper gegen den epidermalen Wachstumsfaktor in Kombination mit einer 5-FU-haltigen Chemotherapie angewendet. Die Blockade des epidermalen Wachstumsfaktors hat pathologisch aktivierte Signalkaskaden, die unter anderem an der Zellproliferation, Angiogenese und Apoptose beteiligt ist, wirksam unterbrochen.

Auch nach kompletter Zytoreduktion und intraperitonealer Chemotherapie sind Rezidive häufig, sowohl bei G1- als auch bei G2/G3 Tumoren, deren medianes krankheitsfreies Überleben in einer Studie bei 21,6 Monaten lag [5, 6].

Rezidive treten meist innerhalb der Peritonealhöhle auf und sind typischerweise kaum schmerzhaft und langsam wachsend. Wiederholte Debulking-Operationen bzw. eine komplette Zytoreduktion mit intraperitonealer Chemotherapie sind vertretbar und können zu einem Langzeit- Überleben führen [6]. Dazu sollte die Behandlung in Zentren mit nachgewiesener geringer perioperativer Morbidität erfolgen. Unser Patient weist nunmehr ein Gesamtüberleben von 76 Monaten (6,4 Jahre) auf und ist derzeit rezidivfrei.

Dr. med. Ulrike Wauer, Dr. med. Michael Pauthner, Sana Klinikum Offenbach, Klinik für Allgemein- und Viszeralchirurgie

Dr. phil. nat. Ernst Reitsamer, Sana Klinikum Offenbach, Med. Klinik IV für Hämatologie und Onkologie

Interessenskonflikt: Es liegen keine Interessenskonflikte vor. Die Literaturhinweise finden Sie am Ende dieser Seite unter „Artikel herunterladen“ in der PDF-Version dieses Artikels.

RAS-Status (RAS = Akronym für rat sarcoma)

Im Sarkom von Ratten wurde dieses Protoonkogen zuerst nachgewiesen. Der RAS-Status zeigt, ob bei einem Krebspatienten eine onkogene KRAS-Mutation vorliegt. Das KRAS-Protein gehört zu den Produkten der ras-Proto-Onkogen-Familie. Es wird durch den epidermalen Wachstumsfaktor EGFR aktiviert – sofern genetisch der KRAS-Wildtyp vorliegt. Falls das KRAS-Gen jedoch mutiert ist, ist seine tumorstimulierende Wirkung nicht mehr abzuschalten. Medikamente wie der EGFR-Inhibitor Panitumumab wirken mithin nur bei Patienten mit KRAS-Wildtyp. Mehr dazu z. B. der Artikel von Martina Lenzen-Schulte, „Metastasiertes Kolorektales Karzinom: Keine Therapie ohne RAS-Status“ [Dtsch Arztebl 2017; 114(24): A-1192] (red)

1 HIPEC: Hypertherme intraperitoneale Chemotherapie – lokale Behandlung in der Bauchhöhle mit einer erwärmten Chemotherapie-Lösung.

2 KOF: Körperoberfläche

3 LAMN: Low-grade muzinöse Neoplasie der Appendix – eine expansiv wachsende, schleimhaltige tumoröse Veränderung der Appendix vermiformis, die eine Vorstufe für das Pseudomyxoma peritonei ist.