Seit dem Paukenschlag, wie Dr. Susanne Johna (HÄBL 2/2021) das Urteil des Bundesverfassungsgerichtes am 26. Februar 2020 für uns Ärztinnen und Ärzte bezeichnete, mit dem das Gericht das Verbot der geschäftsmäßigen Förderung der Selbsttötung aufgehoben hat, laufen kontroverse medizinethische, juristische und gesellschaftliche Debatten. Auch der 14. Ärztetag am Dom griff diese Debatte in seiner Veranstaltung am 12. Februar auf und versuchte, die Dichotomie zwischen den beiden hohen Rechtsgütern – dem Recht auf Autonomie und auf Leben – zu diskutieren. Für uns Ärztinnen und Ärzte, die als oberstes Prinzip „Leben schützen“ (§ 1 Berufsordnung) postulieren, bedeutet der ärztlich assistierte Suizid ein Paradigmenwechsel. Entsprechend erleichtert war ich, als auf dem 124. Deutschen Ärztetag 2021 sehr differenziert diskutiert und klargestellt wurde, dass Suizidassistenz keine ärztliche Aufgabe darstellen darf und eine Verpflichtung von Ärztinnen und Ärzten zur Mitwirkung beim assistierten Suizid ausdrücklich abzulehnen ist. Wir sind Ansprechpartner für Menschen, die aufgrund von Krankheit, Würde- oder Sinnverlust aus dem Leben scheiden wollen und haben Respekt vor deren Selbstbestimmung. Aber die Herbeiführung des Todes war und ist nie Ziel einer ärztlichen Behandlung.

Wie kommt es aber zu dieser Veränderung der gesellschaftlichen Diskussion, die den Wert der Autonomie so betont? Wollen wir in Zeiten, in denen wir unsere Körper und (Geschlechts-)Identitäten aktiv verändern, das Gefühl, in Wahrheit dem Körper in Krankheit und Tod ausgeliefert zu sein, (als Betroffenen und Angehörige) verleugnen? Schwäche, Hilfsbedürftigkeit und Angewiesensein auf andere Menschen scheinen um jeden Preis vermieden zu werden. Das Bundesverfassungsgericht betont die Autonomie, aber sind wir wirklich so autonom?

Sicher sind wir nicht mehr im engen Konstrukt der Werte und Normen der (Groß-)Familien und der Religion gefangen, aber haben wir diese nicht ersetzt durch Influenzer, Facebook, Twitter, Instagram, TicToc etc.? Wird Suizid als Ausdruck von Freiheit und Würde gesehen, weil in den Krankenhäusern zwar technisch alles Erdenkliche für den Erhalt des Lebens getan wird, aber kaum Zeit für die Begleitung von Sterbenden bleibt? Fühlen sich viele Menschen der „Apparatemedizin“ ausgeliefert, haben Angst, nicht mehr würdevoll sterben zu können?

„Zwischenmenschliche Solidarität stärken statt Ausführungsbestimmungen für ein selbstbestimmtes Sterben entwickeln.“

Wenn das die Grundlage ist, können wir dieser Angst durch Stärkung der Palliativmedizin entgegenwirken. Aus Sicht des Palliativmediziners Prof. Dr. Stephan Sahm sind Zuwendung, Beistand, medizinische Behandlung, Linderung des Leids grundlegende moralische Verpflichtungen. Dem Leben zugewandte Begleitung beim Sterben kann Ängste und Leid vermindern. Wichtig empfand ich auch die Hinweise, dass in den Nachbarländern nach Öffnung der Regelungen zur Sterbehilfe die Suizidraten drastisch angestiegen sind. Denn es können dann nicht nur schwerkranke alte, sondern auch junge und gesunde Menschen den Beistand zum Suizid einfordern.

Wie steht es um das Recht auf Behinderung, schwerwiegende Erkrankung und Wachkoma? Können dadurch vulnerable Menschen unter Druck geraten, ihr Weiterleben (den Angehörigen gegenüber oder als Kostenverursacher für die Gesellschaft) zu rechtfertigen? Der Gesetzgeber muss nun die Suizidhilfe regulieren, die Bedingungen an Freiwilligkeit, Ernsthaftigkeit und Dauerhaftigkeit eines Selbsttötungswillens festlegen. Aber müssen nicht auch wir uns wieder eingestehen, dass Krankheiten – wie sie uns die Corona-Pandemie und die aktuelle Notlage durch die Ukraine-Krise näher bringen – zum Leben dazu gehören?! Dass wir (wieder) lernen müssen, diesen durch zwischenmenschliche Solidarität und die Fähigkeit, sich in den anderen einfühlen zu können und dabei doch getrennt und verschieden vom Anderen zu sein, zu begegnen? Prof. Dr. Martin Teising und Prof. Dr. Martin Lindner haben in ihrem Artikel (HÄBL 4/2020, S. 239) auf die Wichtigkeit der Verbundenheit hingewiesen: „Der Mensch ist aber von Anfang an ein soziales Wesen und bleibt es lebenslang, eingebettet in Beziehungen, ohne die er nicht existenzfähig ist.“ Sollten wir also nicht eher das menschliche Beziehungs- und Bindungsbedürfnis im Leben stärken, als Ausführungsbestimmungen für ein selbstbestimmtes Sterben zu entwickeln?

Dr. med. Barbara Jaeger, Präsidiumsmitglied der Landesärztekammer Hessen