Seit bald einem Jahr hält Corona die Welt in Atem. Wie stark beeinflusst die Pandemie Ihren Praxisalltag?

Dr. med. Sylvia-Gabriele Mieke: Der Praxisalltag war am Anfang der Pandemie dadurch bestimmt, dass wir in den Hausarztpraxen über keine Masken und Schutzkleidung verfügten. Zu dieser Zeit hatten wir aber bereits Patienten in Pflegeheimen mit Coronaausbrüchen. Von Anfang an bestand die Angst, sich selber zu infizieren und dadurch auch unsere Patienten anzustecken. Wir betreuen Patienten zu Hause und in Pflegeheimen: Palliativpatienten, Organtransplantierte, multimorbide Ältere, aber auch jüngere behinderte Patienten. In der Praxis arbeiteten wir wöchentlich an der Verbesserung unseres Hygienekonzeptes, um Patienten, unsere Angestellten und uns optimal zu schützen. Es gab wenig Unterstützung und keine Konzepte. Mittlerweile ist vieles Routine, aber all dies kostet viel Zeit. Wir haben viel Geld investiert und das machen wir weiterhin, um unser Hygienekonzept umzusetzen. Dank an die KVH, die uns mit Schutzkleidung gut versorgt. Leider habe wir keinerlei finanzielle Unterstützung von den Krankenkassen, was in dieser Situation notwendig wäre.

Welche organisatorischen Veränderungen haben Sie vorgenommen, um die Praxis an die neuen Rahmenbedingungen anzupassen?

Mieke: Wir haben Routineuntersuchungen verschoben, Behandlungsräume, die nicht gut gelüftet werden können, geschlossen und die Anzahl der Patienten im Wartezimmer eingeschränkt. Weiterhin wird nach jedem Patientenkontakt desinfiziert, gelüftet, Abstandsregelungen markiert und vieles mehr.

Wie sieht die Corona-Situation im Frankfurter Nordwesten aus? Zögern viele Patienten den Praxisbesuch aus Angst vor einer möglichen Ansteckung heraus?

Mieke: Am Anfang kamen viele Patienten nicht, obwohl dringliche Untersuchungen notwendig waren. Das änderte sich im Laufe der Pandemie und manche ältere Patienten verhielten sich eher sorglos. Das macht den Alltag anstrengend, da wir noch immer vieles erklären müssen: „Bitte Mund- und Nasenschutz nicht unter dem Kinn tragen, bitte auch die Nase bedecken, bitte nicht die Maske im Sprechzimmer abnehmen, bitte nicht nur mit Visier kommen.“ Mittlerweile sind viele Dinge bei den Patienten eingespielt. Nichtsdestotrotz ist der Praxisalltag wesentlich aufwendiger und anstrengender geworden.

Hat sich das Arzt-Patientenverhältnis durch die Krise verändert?

Mieke: „Sich die Hand reichen“ ist ein alter Brauch in unserer Kultur und Zeichen der freundschaftlichen Begegnung, aber derzeit nicht möglich. Viele Patienten kommen gut damit klar, andere sind traurig, depressiv oder ängstlich.

Wie gehen Sie selbst mit dem Risiko einer Corona-Infektion um? Wie schützen Sie sich und Ihre Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter? Gibt es Absprachen mit anderen Praxisinhabern, wie die Versorgung im Quarantänefall sichergestellt werden kann?

Mieke: Wir versuchen, uns und unsere Mitarbeiter gut zu schützen und haben regelmäßige Teambesprechungen. Mit fünf Ärzten in unserer Gemeinschaftspraxis wäre eine Quarantäne schwierig, da viele Praxen der Umgebung Einzelpraxen sind.

Fühlen Sie sich als niedergelassene Ärztin ausreichend von der Politik und der ärztlichen Selbstverwaltung in der Pandemie unterstützt? Sind Sie mit der Informations- und Kommunikationspolitik von KV, Behörden und hessischer Landesregierung zufrieden?

Mieke: Von Beginn der Pandemie ging es nur um Krankenhäuser, Pflegeheime und deren Angestellte. Die ambulante Medizin tauchte nicht auf. Dabei ist sie der Schutzwall der Krankenhäuser und versorgt sechs von sieben Covid-19-Patienten. Die Gleichgültigkeit der Politiker gegenüber den Hausärzten, ihren MFA und deren Patienten ist schwer erträglich.

Der Vorstandsvorsitzende der KVH Frank Dastych und der stellvertretende Vorstandsvorsitzende Dr. Eckard Starke haben der Landesregierung dargelegt, wie entscheidend in dieser Epidemie der Anteil der Hausärzte ist. Vom hessischen Ministerpräsidenten Volker Bouffier wurde diese Tatsache allerdings nicht zur Kenntnis genommen und kaum Hilfen angeboten.

Was halten Sie davon, dass die Hausärzte erst zu einem späteren Zeitpunkt in die Impfstrategie der hessischen Landesregierung einbezogen werden?

Mieke: Die Impfstrategie versagt im Falle von Hausärzten völlig. Die Hausarztpraxen versorgen seit Beginn der Pandemie Covid-19-Patienten. Hausärzte und Mitarbeiter gehören definitiv in Gruppe 1 der zu Impfenden. Das wird in anderen Bundesländern auch so gesehen. Hessens Regierung soll sich dringend bewegen. Aufgrund der Altersstruktur der niedergelassenen Hausärzte sind viele von uns über 60, in meiner näheren Umgebung sogar über 70 Jahre alt und damit selber Risikopatienten. Eine Gemeinschaftspraxis in meiner näheren Umgebung hat die Praxis geschlossen und ein weiterer Hausarzt wird aufhören.

Wie funktioniert die Vernetzung von ambulantem und stationärem Bereich nach Ihrer Erfahrung?

Mieke: Die Vernetzung der Strukturen ist im Normalfall gut, bei Corona jedoch schwierig, da unser nächstes Krankenhaus ein Covid-Schwerpunkt-Krankenhaus ist und Patienten mit Covid-19-Erkrankung wegen Überfüllung teilweise nicht mehr aufnehmen konnte. Deshalb mussten Patienten manchmal in Kliniken verlegt werden, die über 50 Kilometer entfernt sind.

Hat die Corona-Pandemie Defizite in der gesundheitlichen Versorgung der Bevölkerung deutlich werden lassen?

Mieke: Im ambulanten Bereich sind viele dringende Untersuchungen und Behandlungen nicht erfolgt. Das hat sich teils sehr nachteilig bei Erkrankungen ausgewirkt.

Welche Rolle wird die niedergelassene Praxis künftig spielen?

Mieke: Die Rolle der niedergelassenen Ärzte wird von Seiten der Politik vernachlässigt. Damit sich diese in unserem Sinne, unserer Mitarbeiterinnen und Patienten bewegt, müssen die Kassenärztliche Vereinigungen im Bund und in den Ländern dies noch deutlicher zur Sprache bringen. Was wir brauchen, ist wirksame Unterstützung statt noch mehr Bürokratie und noch mehr Vorschriften, was auch jeglichen Nachwuchs abschreckt.

Interview: Katja Möhrle

Stand: 17.02.2021

Dr. med. Sylvia-Gabriele Mieke ist Ärztin für Allgemeinmedizin (Zusatz Notfall- und Sportmedizin, Akupunktur, Notärztin/Ärztin im Rettungsdienst). Seit 1986 niedergelassen in Frankfurt/Nordweststadt. Mitgliedschaft & Funktionen: Delegierte der LÄKH (Mitglied im Ausschuss Hygiene und Umweltmedizin); Stellv. Vorsitzende des Hausärzteverbandes Hessen, Bezirk Frankfurt; Mitglied des Vorstandes der Carl-Oelemann-Schule; Mitglied der Vertreterversammlung der Kassenärztlichen Vereinigung Hessen.