„Psyche und Körper gehören zusammen“

„Psyche und Soma bilden eine Einheit: Das gehört zum ärztlichen Selbstverständnis“, erklärte Dr. med. Edgar Pinkowski, Präsident der Landesärztekammer Hessen (LÄKH), bei der Eröffnung des virtuellen Runden Tisches der LÄKH zur Bedeutung der ärztlichen Psychotherapie am 18. Mai. Anlass für die virtuelle Runde mit namhaften Expertinnen und Experten aus Hessen war die Präsentation des Positionspapiers der LÄKH zur Bedeutung der ärztlich-psychotherapeutischen Versorgung – vor dem Hintergrund der seit Jahren ansteigenden Patientenanfragen nach Psychotherapie sowie nach psychiatrischer und psychosomatischer Behandlung und einer sich in der Coronakrise zuspitzenden Lage vor allem in den Kinder- und Jugendpsychiatrien.

Psychotherapie als Bestandteil ärztlicher Behandlung

Bei der Begrüßung durch den Initiator des Papiers Dr. med. Peter Zürner – Internist, Arzt für Psychotherapeutische Medizin und Physikalische Therapie und Präsidiumsmitglied der Kammer – wurde das Ziel des Runden Tisches deutlich: den Stellenwert der Psychotherapie als Bestandteil der ärztlichen Behandlung deutlich machen und Transparenz für Bürgerinnen und Bürger herstellen. Im Zentrum stehe dabei die für Patientinnen und Patienten entscheidende Frage: „Wo finde ich Hilfe, und wohin wende ich mich bei psychischen, psychosomatischen und psychiatrischen Störungen und Problemen?“

Daran anknüpfend, begann die von Katja Möhrle – Leiterin der Stabsstelle Medien – und Maren Grikscheit, stv. Leiterin der Stabsstelle Medien, moderierte Veranstaltung mit zwei hypothetischen Fallbeispielen: eines 64-Jährigen, der nach einem erlittenen und auskurierten Herzinfarkt unter Panikattacken leide und trotz eines unauffälligen Befunds immer wieder den Notarzt alarmiere, sowie eines 35-jährigen Handwerkers, der wegen Rückenbeschwerden den Hausarzt wiederholt um Spritzen und Krankschreibungen bitte, privat aber unter der drohenden Scheidung von seiner Ehefrau sowie unter Alkoholsucht leide. An wen sollten sich beide Herren wenden?

„Die erste Anlaufstelle ist immer die hausärztliche Praxis – bzw., falls es sich bei den Patienten um Kinder oder Jugendliche handelt, die Kinderärztin oder der Kinderarzt“, erklärte Prof. Dr. med. Johannes Kruse, Ärztlicher Direktor der Klinik für Psychosomatik und Psychotherapie des Universitätsklinikum Gießen und Marburg und Mitautor des Positionspapiers.

„In beiden der geschilderten Fälle scheint es sich um somatische Beschwerden zu handeln, die psychisch getriggert werden“, stellte Dr. med. Horst Löckermann – in Darmstadt niedergelassener Hausarzt, Facharzt für Allgemeinmedizin sowie Psychotherapeut – fest. Hier sei es die Aufgabe des Hausarztes, im Rahmen der Psychosomatischen Grundversorgung ein Gespräch mit dem Patienten über den psychischen Hintergrund zu suchen, somatische Ursachen (erneut) auszuschließen und – vor allem bei länger anhaltenden Beschwerden – den Patienten an die Psychotherapie zu überweisen.

Generell funktioniere die ärztlich-psychotherapeutische Versorgung über ein Stufenmodell nach dem Prinzip „Hausärzte/niedergelassene Fachärzte/Klinik“, ergänzte Kruse. Es sei eine Tatsache, dass bei über der Hälfte der Patienten mit psychosomatischen Störungen auch eine chronische somatische Erkrankung besteht, wie Krebs oder Multiple Sklerose (MS). Daher bedürfe es des ärztlichen Blickes, um beides im Auge zu behalten und einen Gesamtbehandlungsplan zu entwerfen, in dem die Psychotherapie einen Teil bildet.

Die Bedeutung der Gesamtbetrachtung von Körper und Psyche hob auch Zürner hervor: Der Bevölkerung und Politik solle verdeutlicht werden, dass der ärztliche Blick bei der Behandlung von augenscheinlich „rein“ physischen wie auch „rein“ psychischen Krankheitsbildern unerlässlich sei. In der Öffentlichkeit verfestige sich zunehmend die Meinung, dass (nicht ärztlich ausgebildete) Psychologen und Psychotherapeuten die Experten auf dem Gebiet der Psyche seien. Tatsächlich arbeiteten Ärzte und Psychologen im Alltag erfolgreich zusammen und ergänzten einander zum Wohle der Patienten. Auch sei es im Sinne der Patienten, eine Ausgliederung der ärztlichen Kompetenz aus der psychotherapeutischen Landschaft zu verhindern und die ärztliche Psychotherapie konsequent weiterzuentwickeln.

Andere Ausbildung, anderer Blick

„Psychologen sind nicht schlechter oder besser, sonders anders ausgebildet“, bekräftigte auch Dr. med. Barbara Jäger, in Offenbach niedergelassene Fachärztin für Psychotherapeutische Medizin und Psychoanalyse sowie Präsidiumsmitglied der LÄKH. „Aber sie haben einen anderen Blick.“

Sie schilderte den Fall einer Patientin, die wegen Gesichtsschmerzen jahrelang in zahnärztlicher Behandlung war und unzählige Operationen über sich ergehen lassen musste – bis sie den Weg in die ärztlich-psychotherapeutische Praxis fand. Im Rahmen der Psychotherapie konnten familiäre Probleme als wahre Ursache ausgemacht werden: „nach dem Motto: Zähne zusammenbeißen und durch.“ Mittlerweile lebe die Patientin weitgehend schmerzfrei.

Auf die Frage, inwieweit sich die Auswirkungen der Coronapandemie im berufsärztlichen Alltag bemerkbar machten, berichtete Jäger von einer Zunahme an jungen männlichen Patienten mit Aggressionen.

Auch die Zahl der Patienten mit Ess- und depressiven Störungen sei in der gegenwärtigen Coronapandemie stark angestiegen, berichtete PD Dr. med. Martina Pitzer, Fachärztin für Kinder- und Jugendpsychiatrie und Psychotherapie, die als Klinikdirektorin der Vitos Kinder- und Jugendklinik für psychische Gesundheit in Eltville tätig ist. Hinzu komme, dass aktuell immer mehr minderjährige Patienten hohe Schweregrade aufwiesen. „Auch die 13-jährige Magersüchtige mit Kreislaufproblemen muss zunächst auf körperliche Ursachen untersucht werden.“

Der ebenfalls zugeschaltete Mitautor des Positionspapiers Prof. Dr. med. Martin Ohlmeier, Direktor der Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie Ludwig-Noll-Krankenhaus am Klinikum Kassel, machte u. a. darauf aufmerksam, dass auch den psychiatrisch zu behandelnden Suchterkrankungen oftmals Depressionen und psychosoziale Konflikte zugrunde liegen. Bei einem Exkurs in die Medizingeschichte stellte Ohlmeier zudem fest, dass die Psychotherapie an sich sowie eine Vielzahl ihrer Methoden und Ansätze von Ärztinnen und Ärzten entwickelt worden sind, wie Siegmund Freud oder Manfred Bleuler.

Darüber hinaus machte Ohlmeier deutlich, dass der Schwerpunkt psychiatrischer Kompetenz auf Suchterkrankungen sowie psychotischen Störungen aus dem schizophrenen Formenkreis liege. Bei den Letzteren sei der Öffentlichkeit oftmals nicht bewusst, dass die Erstmanifestation der Psychose, die mitunter selbst traumatisierend wirken kann, bei nicht wenigen Patienten auf den Konsum von Cannabis zurückgeht. Zur Weiterentwicklung der Psychotherapie berichtete er außerdem, dass die Wissenschaft bei der Behandlung von autoimmun-vermittelten Psychosen in jüngerer Zeit große Fortschritte gemacht hat.

Aktuelle Versorgungssituation

In der anschließenden Diskussion wurde auf handfeste Zahlen verwiesen, um die Bedeutung der ärztlich-psychotherapeutischen Versorgung in der Öffentlichkeit bewusst zu machen: So werde der überwiegende Teil der Patienten mit psychischen und psychosomatischen Störungen bereits im Rahmen der Psychosomatischen Grundversorgung von Haus- sowie Kinder und Jugendärzt/-innen betreut und behandelt (vgl. Bundesarztregister der Kassenärztlichen Bundesvereinigung 12/2020). Neben der ambulanten Versorgung auch durch Gynäkologen, Neurologen sowie durch niedergelassene Fachärzte mit psychotherapeutischer, psychiatrischer oder psychosomatischer Expertise gibt es noch den großen Bereich der (teil-)stationären Versorgung in psychiatrischen wie kinder- und jugendpsychiatrischen Fachkliniken, Suchtkliniken und Rehabilitationseinrichtungen.

Das Stufenmodell der ärztlich-psychotherapeutische Versorgung „Hausarzt/ niedergelassene Fachärztin/Klinik“ werde durch die virtuell anwesenden Expert/-innen – neben den Verfasser/-innen des Positionspapiers – musterhaft verkörpert, stellte Kruse zusammenfassend fest.

Ob sich der Ärztemangel im Bereich der Psychotherapie ebenfalls deutlich bemerkbar mache, fragte eine zugeschaltete Journalistin nach. Generell scheuten viele der jüngeren Kolleginnen und Kollegen den Weg in die Niederlassung, so Jäger. Hier gingen die Versorgungssituation und der Wunsch der meisten Patienten nach einer ambulanten Versorgung auseinander. Dennoch zeigte sich Jäger zuversichtlich, dass die im Sommer 2020 in Kraft getretene neue Weiterbildungsordnung, die die Absolvierung der Weiterbildung nun stärker als bisher im ambulanten Bereich ermögliche, eine Trendumkehrung herbeiführen könne.

Pitzer ergänzte, dass die Behandlungskapazitäten wie -angebote in den vergangenen 20–30 Jahren stark gestiegen seien.

„Was sollten Patienten aus der heutigen Veranstaltung vor allem mitnehmen?“, fragten die Moderatorinnen zum Schluss in die Runde. „Dass die erste Anlaufstelle immer die hausärztliche bzw. kinderärztliche Praxis ist“, resümierte Kruse.

Alla Soumm