Psychosozial-Verlag Gießen 2020, 395 S., ISBN 9783837929799, 44.90 €

Jeder, der sich für frühere Kulturen und Religionen interessiert und sich fragt, wie damalige Menschen verfasst waren, findet in diesem faszinierend breit fundierten Werk überraschende Antworten. Der in diesem Bereich ausgewiesene Autor zeichnet auf den Spuren von Freuds Kulturtheorie, René Girards Religionsphilosophie und der Bewusstseinspsychologie von Julian Jaynes ein überzeugendes Panorama der Mentalitätsgeschichte. Der Bogen spannt sich von der Jungsteinzeit über die bronzezeitlichen Theokratien des Vorderen Orients zu Homers Epen. Haas gelangt von der Erfindung der Schrift bis zur Digitalisierung, von der jüdisch-christlichen Achse bis zum Agnostizismus der Aufklärung. Als die Frühmenschen begannen ihre Toten zu bestatten, eröffnete sich ihnen das Reich des Übernatürlichen.

Mit ihren Ahnen und Göttern standen sie in naturhaft mystischer Verbindung, die auf einen ursprünglichen uns fremden Zustand verweist. Die Innenwelt des archaischen Menschen erscheint in diesem Modell zweigeteilt. In diesem Zweikammergeist lagen Initiative und Kraft bei den Ahnen und Göttern, die sich in Visionen und Auditionen kundtaten. Das Aufkommen der Schriftlichkeit machte Großreiche im zweiten vorchristlichen Jahrtausend besser regierbar. Den geopolitischen Umbrüchen dieser Zeit waren die Götterstimmen nicht mehr gewachsen und verstummten. Vor 3000 Jahren begann ein einschneidender Epochenwechsel, die sogenannte Achsenzeit. Die sich emanzipierenden Menschen entwickelten Individualität, ein sich seiner selbst bewusstes Ich und wurden uns heutigen ähnlich. Auch bei jetzt lebenden Menschen anderer Kulturen lassen sich noch Spuren früherer Mentalitäten entdecken. So bei den Himba, Hirtennomaden Namibias, bei denen ich ethnopsychoanalytisch geforscht habe. Mit dem Zuzug von Menschen aus anderen Kulturen begegnen wir auch hierzulande einer fremden Weltsicht. Dieses Buch kann uns dafür sensibilisieren, ihnen gerechter zu werden und sie nicht als minderwertig oder primitiv zu disqualifizieren, wenn sie nicht über das gleiche autonome Ich und technische Wissen verfügen wie wir, jedoch über andere Fähigkeiten, die wir verloren haben.

Dr. med. Angela Köhler-Weisker, Kinderärztin, Psychoanalytikerin, Frankfurt am Main