Dr. med. Mechthild Pies ist Leiterin des neuen Medizinischen Zentrums für Erwachsene mit Behinderung (MZEB) am Klinikum Höchst

Erwachsene Menschen mit geistiger Behinderung oder schweren Mehrfachbehinderungen wurden bis vor Kurzem mit Vollendung des 18. Lebensjahres von der gesundheitlichen Versorgung durch spezialisierte Ärztinnen und Therapeuten weitgehend ausgeschlossen. Dr. med. Mechthild Pies, Chefärztin des ersten Medizinischen Zentrums für Erwachsene mit Behinderung (MZEB) in Hessen, erläutert im Gespräch, weshalb der Bedarf nach dieser besonderen Versorgungsform äußerst hoch ist und wie sich die Arbeit konkret gestaltet.

Frau Dr. Pies, Sie leiten bereits seit 2011 das Sozialpädiatrische Zentrum am Klinikum Höchst (SPZ) und konnten nun das Angebot für Erwachsene mit Behinderung erweitern. Weshalb bedarf es eines speziellen Zentrums für erwachsene Menschen mit geistiger oder mehrfacher Behinderung?

Dr. med. Mechthild Pies: Vor über 50 Jahren war es für die Betreuung behinderter Kinder und Jugendlicher ein sehr wichtiger Schritt, den Aufbau Sozialpädiatrischer Zentren zu ermöglichen. Grundlage dafür war die Regelung im § 119 SGB V, die eine angemessen zeitintensive Betreuung absichert. Denn Menschen mit Behinderung brauchen mehr Zeit. Es braucht mehr Netzwerkarbeit, die sogenannte sprechende Medizin steht im Mittelpunkt. Man benötigt viel Zeit für die adäquate Begleitung der Familien und weiterer Bezugssysteme wie Kindergarten oder Schule.

Sobald die Patientinnen und Patienten das 18. Lebensjahr erreichten, brach diese Art der Versorgung bisher ab. Die Probleme werden im Erwachsenenalter aber nicht weniger, sondern ganz im Gegenteil. Insbesondere die Verhaltensproblematiken oder die Medikationsanforderungen nehmen sogar zu. Je älter die Menschen werden, umso komplexer werden teilweise auch die damit verbundenen Krankheitsbilder und Symptome. In der klassischen medizinischen Behandlung ist heutzutage jedoch nur wenig Zeit für die sprechende Medizin. Behinderte Menschen, insbesondere die intelligenzgeminderten, reagieren jedoch sehr empfindlich auf Druck. Wenn das Wartezimmer voll ist und eigentlich alles innerhalb von wenigen Minuten erledigt sein muss, geht meist überhaupt nichts mehr.

Nun gibt es auch Medizinische Zentren für Erwachsene mit Behinderung. Wie kam es zu dieser Entwicklung?

Pies: Dass auch das ambulante Setting für Erwachsene mit Behinderung um SPZ-ähnliche Institutionen erweitert werden muss, wurde nach vielen Jahren endlich anerkannt. Im SPZ konnten wir bislang nur für wenige sehr stark betroffene junge Erwachsene die Weiterbehandlung durch eine Einzelfallentscheidung der Krankenkassen erkämpfen. Es gab keine verlässliche Lösung. Die Patienten waren auf das Wohlwollen der Kostenträger angewiesen.

2015 wurde das SGB V um § 119c ergänzt. Damit wurde die gesetzliche Grundlage zur Gründung Medizinischer Zentren für Erwachsene mit Behinderung geschaffen. Hierfür hatten sich Mediziner unterschiedlicher Fachrichtungen und verschiedene Fachverbände stark gemacht. Neben der unerlässlichen zeitintensiveren Betreuung wurde auch immer wieder auf die besonderen kommunikativen Herausforderungen im Umgang mit nicht bzw. kaum sprechenden Patienten hingewiesen. So ist die Unterstützte Kommunikation ein wesentlicher Bestandteil der MZEB-Arbeit.

Seit wann gibt es das MZEB am Klinikum Höchst?

Pies: Es hat zweieinhalb Jahre gedauert, bis wir vom Zulassungsausschuss der Kassenärztlichen Vereinigung Hessen (KVH) die MZEB-Ermächtigung erhalten und mit den Kostenträgern alles geklärt hatten. Im Dezember 2019 konnten wir endlich starten. Und dann kam Covid-19 und wir mussten im März 2020 nach nur vier Monaten Tätigkeit schon schließen – zum Glück aber nur vorübergehend. Seit Juni 2020 haben wir wieder geöffnet.

Wie und von wem wird das Angebot bei Ihnen angenommen?

Pies: Erwachsene SPZ-Patienten wechseln im Rahmen der Transition zu uns ins MZEB. Ein großer Versorgungsbedarf besteht auch in vielen Wohneinrichtungen. Wir versuchen das überregional abzudecken. Wir haben ein großes Einzugsgebiet. Die bisherige Versorgung der Bewohner durch hausärztliche Kolleginnen und Kollegen sowie beispielsweise Neurologen, Psychiater und Orthopäden ist in das klassische System eingebettet. Dies bietet jedoch kaum Raum für den erforderlichen interdisziplinären Austausch. Das MZEB-Setting schafft hingegen zeitliche Ressourcen für den Austausch. Mit unserer Lotsenfunktion haben sich die Kommunikationswege schon merklich verkürzt. Wird zum Beispiel ein Patient mit unklaren Schmerzen hausärztlich, psychiatrisch, neurologisch und orthopädisch betreut, helfen wir, die Maßnahmen der einzelnen Fachrichtungen untereinander transparent zu machen.

Wie kann man sich die Behandlung des MZEB konkret vorstellen?

Pies: Wir sind sowohl hier vor Ort als auch aufsuchend tätig. Die Komplexbehandlung umfasst ärztliche, psychologisch-pädagogische und therapeutische Leistungen. Dabei ist der Bedarf für die aufsuchende Tätigkeit sehr groß. Die Begleitung von Menschen aus Wohneinrichtungen zur Arztpraxis fordert Betreuerkapazitäten, die bekanntlich sehr knapp sind. Werden behinderte Menschen aus ihrem gewohnten Umfeld herausgerissen, erschwert dies die Einschätzung ihrer Symptomatik. Insbesondere eigenständig mobile intelligenzgeminderte Patienten weigern sich mitunter, ihr Umfeld zu verlassen und steigen erst gar nicht ins Auto ein. Alle diese Aspekte müssen wir bei unserer MZEB-Tätigkeit beachten. Wir lernen hier jeden Tag dazu. Wir erleben die aufsuchende Tätigkeit als sehr effektiv. Sie erleichtert den Zugang zu den Patienten sehr.

Welchen Stellenwert nimmt das Lotsen bei Ihrer Tätigkeit insgesamt ein?

Pies: Die Lotsenfunktion ist eindeutig vorrangig, insbesondere für die Menschen aus den Wohneinrichtungen. Sie können unsere medizinisch-therapeutischen Angebote vor Ort – wie beispielsweise Physiotherapie oder Logopädie – aus den schon genannten Gründen mangels Mobilität nur bedingt annehmen. Wir vernetzen, supervidieren, geben Anregungen und lotsen daher.

Sie kooperieren dadurch mit vielen verschiedenen Therapeutinnen und Ärzten. Wie erleben Sie die Zusammenarbeit?

Pies: Wir werden mit offenen Armen empfangen und als Ergänzung gesehen. Im Rahmen des Ermächtigungsverfahrens hatten die niedergelassenen Kolleginnen und Kollegen im Rhein-Main-Gebiet in einer umfangreichen Befragung der KVH den großen Bedarf Medizinischer Zentren für Erwachsene mit Behinderung bestätigt. Auch die Wohneinrichtungen sind dankbar und sehr kooperationsbereit. Das große Thema ist immer wieder Zeit. Eine reguläre Arztpraxis sieht heutzutage mindestens 80 Menschen an einem Tag, wir sehen mit voller Stelle vier bis maximal sechs Patienten. Pro Patient haben wir mindestens 90 Minuten Zeit.

Die Arbeit am einzelnen Patienten ist dadurch sehr zeitintensiv. Wie viele Patienten können sie betreuen?

Pies: Wir haben im Moment eine Fallobergrenze von 200 Fällen im Quartal, die uns vom Zulassungsausschuss der KVH auferlegt wurde. Dies deckt den Versorgungsbedarf bei weitem nicht ab. Bislang sind wir das einzige MZEB in Hessen.

Wenn Sie bisher das einzige MZEB in Hessen sind, welchen Radius können Sie abdecken?

Pies: Wir fahren im Moment eine Strecke bis zu 60 Kilometern. In der Regel sind wir im Tandem unterwegs. Dies erfordert gute Planung und Koordination. Die angrenzenden Bundesländer sind deutlich besser aufgestellt. In Rheinland-Pfalz gibt es derzeit schon fünf MZEB. Wir müssen uns dafür einsetzen, dass auch hier in Hessen die Versorgung von Menschen mit Behinderung noch stärker in den Fokus rückt.

Wie viele Mitarbeiterinnen arbeiten für das MZEB?

Pies: Wir werden mit knapp zehn Vollzeitstellen in das Jahr 2021 gehen. Dazu gehören Ärztinnen, psychologisch-pädagogische und therapeutische Kolleginnen sowie Krankenschwestern und Medizinische Fachangestellte. Wir arbeiten in einem neurologischen und einem internistischen Team. Beide sind multiprofessionell besetzt.

Wer kann in oder im Rahmen des MZEB behandelt werden?

Pies: Nicht alle Kinder oder Jugendliche, die in einem SPZ betreut wurden, dürfen automatisch in ein MZEB wechseln, sondern nur die schwerer Betroffenen. Die Zulassungsausschüsse legen Vorgaben fest. Sie variieren überregional etwas. Sie orientieren sich deutschlandweit am Grad der Behinderung im Schwerbehindertenausweis – bei uns sind es 70 Grad. Zudem müssen gewisse Merkzeichen erfüllt sein und die Diagnose muss mit einer Behinderung in der Kindheit zusammenhängen. Der Zulassungsausschuss hat die Diagnosen klar benannt. Ein 25-Jähriger, der nach einem Motorradunfall querschnittsgelähmt ist, ist zum Beispiel kein klassischer Patient für ein MZEB.

„Menschen mit Behinderung soll eine adäquate Teilhabe ermöglicht werden, das ist der Kern unserer Arbeit“, sagt Dr. med. Mechthild Pies.

Was hat es mit den Merkzeichen auf sich, die erfüllt sein müssen?

Pies: Auch diese wurden für unser MZEB vom Zulassungsausschuss konkret festgelegt. Mit den Merkzeichen soll vermutlich abgesichert werden, dass es tatsächlich schwerbehinderte Menschen sind, die einer lebenslangen intensiven Betreuung bedürfen.

Bezogen auf die aktuelle Situation unter Covid-19: Können Sie seit der Wiedereröffnung im Sommer „normal“ weitermachen?

Pies: Wir versuchen unser Bestes – natürlich unter Einhaltung der Hygienerichtlinien. Auch hier gelingt die Abstimmung mit den Wohneinrichtungen sehr gut.

In welcher Hinsicht bedarf es Ihrer Ansicht weiterer Entwicklung?

Pies: Sowohl für die ambulante als auch für die stationäre Versorgung unserer Patienten bedarf es noch starker Verbesserung und Aufbau angemessener Strukturen. Dies beginnt schon beim Thema Bildgebung: Viele unserer Patientinnen tolerieren ohne tiefe Sedierung oder Narkose keine MRT-Untersuchung. Dieses zeit- und personalintensive Setting bietet kaum eine radiologische Praxis. Das gleiche gilt für endoskopische Untersuchungen. Auch die stationäre Betreuung erfordert Besonderheiten. So wäre zum Beispiel die reguläre Mitaufnahme von Bezugspersonen sehr wünschenswert. Hierzu müssen natürlich auch die finanziellen Voraussetzungen geschaffen werden.

Was ist Ihnen bei Ihrer Arbeit besonders wichtig?

Pies: Den Menschen mit Behinderung eine adäquate Teilhabe zu ermöglichen, das ist der Kern. Im Erwachsenenalter ist es nochmal wichtiger die Umweltfaktoren zu berücksichtigen. Ich kann noch so viele Ressourcen vor Ort haben – wenn die Menschen aufgrund ihrer Behinderung nicht zu uns kommen können, hat das gar keinen Zweck.

Es ist ein gutes und wichtiges Signal vonseiten der Politik, dass sie die Möglichkeit geschaffen hat, die MZEB zu errichten. Damit sind wir auf einem guten Weg, aber es gibt noch einiges zu tun.

Interview: Maren Grikscheit