Jürgen Matzat

Seit der Entstehung der ersten Einrichtungen für die Gründung und Unterstützung von Selbsthilfegruppen als „Nebenaufgabe“ bei anderen Institutionen in den späten 1970er- und frühen 1980er-Jahren hat sich an den mittlerweile über 300 Selbsthilfekontaktstellen in Deutschland ein weitgehend vergleichbares Leistungsspektrum etabliert. Es umfasst in der Regel Folgendes:

  1. Dokumentation der örtlichen Selbsthilfegruppenlandschaft. Fast überall werden entsprechende Verzeichnisse erstellt (in Gießen z. B. „Selbsthilfegruppen-Wegweiser“ genannt), die regelmäßig gepflegt und aktualisiert und in gedruckter oder elektronischer Form zur Verfügung gestellt werden. Sie dienen vor allem der Fachwelt, z. B. Ärztinnen und Ärzten in Praxen und Krankenhäusern dazu, sich zu informieren, zu welchen Themen, etwa Krankheitsbildern, es bereits Selbsthilfegruppen in der jeweiligen Region gibt und wie diese ggf. erreichbar sind.
  2. Information über Ideen und Konzepte von Selbsthilfegruppen: Hier können sich Betroffene, aber auch Fachkräfte erläutern lassen, wie verschiedene Selbsthilfegruppen arbeiten, welche Leitungs- und Beteiligungsformen dort zu finden sind, was z. B. „anonyme“ Selbsthilfegruppen kennzeichnet und was ein neues Mitglied dort möglicherweise erwartet.
  3. Zugang zu bestehenden Selbsthilfegruppen: Manchmal reicht schon die Weitergabe von Kontaktdaten der Ansprechpersonen sowie die Information darüber, wann, wo und wie oft die Gruppe sich trifft. Manchmal ist aber auch ein „Clearing“- oder „Ambivalenzgespräch“ zu führen. Dies kann z. B. die Frage betreffen, was der Unterschied zwischen einer Selbsthilfegruppe und einer professionell geleiteten Gruppe, etwa einer Gruppenpsychotherapie, ist – und welche Ängste oder Hoffnungen das eine oder das andere bei Ratsuchenden auslöst. Oder es geht um konzeptionelle Unterschiede zwischen verschiedenen Sucht-Selbsthilfegruppen. In einer gewissen Ähnlichkeit zum „shared decision making“ oder zur „partizipativen Entscheidungsfindung“ wird den Betroffenen geholfen, sich für oder gegen die Teilnahme an einer bestimmten Selbsthilfegruppe zu entscheiden (Selbst-Indikation).
  4. Gründung neuer Selbsthilfegruppen: Natürlich ist jeder Mensch frei, eine Selbsthilfegruppe zu gründen. Dafür braucht man keinerlei Lizenz, es ist eine Bürgerinitiative in eigener Sache. Die Erfahrung zeigt aber, dass es hilfreich ist, nicht immer wieder das Rad neu zu erfinden, sondern auf den Erfahrungen anderer aufzubauen. Diesen Erfahrungstransfer übernehmen die Selbsthilfekontaktstellen. Wie macht man die Gründungsidee am besten bekannt? Wie gewinnt man Mitstreiter, Verbündete und Unterstützer (z. B. Ärztinnen und Ärzte)? Wo findet man angemessene Räume und, falls nötig, finanzielle Unterstützung? Was wäre ein günstiges „Setting“ (Gruppengröße, Sitzungsfrequenz und -dauer etc.)?
  5. Vermittlung von Räumen, Finanzen etc.: Manche Selbsthilfekontaktstellen verfügen über eigene Räumlichkeiten, die sie kostenlos oder gegen geringe Mietgebühr zu Verfügung stellen können. Ansonsten bemühen sie sich, die Gruppen bei der Raumsuche durch Hinweise oder Vermittlung zu unterstützen. Beispielsweise haben viele Selbsthilfegruppen in Kliniken Quartier gefunden. Finanzielle Förderung erhalten Selbsthilfegruppen mit Gesundheitsbezug vor allem durch gesetzliche Krankenkassen – auf Grundlage des § 20h SGB V. Ein weiterer häufig geäußerter Unterstützungswunsch der Gruppen richtet sich auf geeignete und engagierte Referentinnen und Referenten, vor allem aus dem ärztlichen Bereich.
  6. Beratung von bzw. mit Selbsthilfegruppen: Natürlich geht in Selbsthilfegruppen nicht immer alles glatt. Hier sind schließlich keine Profis am Werk, oft auch keine erfahrenen „Vereinsmeier“, sondern Menschen mit gesundheitlichen bzw. sozialen Einschränkungen. Es kann zu Konflikten kommen, Regeln werden verletzt oder man hat es unterlassen, welche aufzustellen. Die Teilnahme ist unregelmäßig oder unzuverlässig, Diskretion wird nicht gewahrt, Nachwuchs bleibt aus, die Kooperation mit Fachleuten gelingt nicht. Zu solchen Fragen können sich Selbsthilfegruppen an die Kontaktstelle wenden, um Beratungsgespräche zu vereinbaren. Manchmal nehmen diese supervisionsartigen Charakter an.
  7. Öffentlichkeitsarbeit: Selbsthilfegruppen möchten sich bekannt machen, ihre Anliegen vortragen und neue Mitglieder gewinnen. Neben der Aufnahme in ihre örtlichen Selbsthilfegruppenverzeichnisse („Wegweiser“) können Kontaktstellen den Gruppen dabei behilflich sein, Faltblätter zu entwerfen, Presseartikel zu verfassen oder Interviews mit Journalisten vorzubereiten. (Man überlege sich z. B. vor dem Gespräch, ob man anderntags sein Foto und seine Telefonnummer in der Zeitung sehen möchte.) Viele Selbsthilfekontaktstellen veranstalten sogenannte Selbsthilfetage, bei denen die Gruppen sich, ihr Anliegen und ihre Informationsmaterialien präsentieren können.
  8. Drehscheibe zwischen Selbsthilfesystem und professionellem Versorgungssystem: Selbsthilfekontaktstellen sind einerseits Teil der Selbsthilfe in unserem Land (sie werden daher wie Selbsthilfegruppen und Selbsthilfeorganisationen auch von den gesetzlichen Krankenkassen nach § 20h SGB V gefördert), andererseits sind sie professionelle Beratungseinrichtungen im gesundheitlichen Versorgungssystem, wo meist Sozialarbeiter, Pädagogen oder Psychologen arbeiten. Eine ihrer Aufgaben ist es, beide „Systeme“ miteinander in einen produktiven Austausch zu bringen, so dass beide Ressourcen für die Betroffenen optimal nutzbar sind. Die Formen der Kooperation vor Ort sind äußerst vielfältig. Dabei ist den Kontaktstellen, insbesondere dort, wo sie schon lange bestehen, gut regional vernetzt sind und über erfahrenes Personal verfügen, im Laufe der Zeit eine Lotsenfunktion in das für Betroffene so undurchschaubare Gesundheitswesen zugewachsen. Wo könnte man sich noch hinwenden, um Rat und Hilfe zu suchen? Welche Beratungsstellen oder Spezialambulanzen gibt es vor Ort? Wie finde ich einen Psychotherapieplatz?
  9. Schließlich haben Selbsthilfekontaktstellen eine „Sprachrohr“-Funktion: Sie vertreten dort, wo es einzelne Selbsthilfegruppen nicht in angemessener Weise tun können, die Idee und die Interessen der Selbsthilfe insgesamt. Dies findet z. B. statt in gesundheits- oder sozialpolitischen Gremien wie regionale Behindertenbeiräten und Gesundheitskonferenzen oder in der Rolle als Initiativenvertreter einer Kommune im Rahmen des Gesunde Städte-Netzwerks.

Dipl.-Psych. Jürgen Matzat, Psychologischer Psychotherapeut, Kontaktstelle für Selbsthilfegruppen, Gießen, E-Mail: juergen.matzat@psycho.med.uni-giessen.de