Interview mit Annette Hünefeld, Deutsche Leukämie- & Lymphom-Hilfe

Manchmal sind es Zufälle, die dazu führen, sich für eine Sache stark zu machen und den Anstoß zu geben für vielfältige Entwicklungen. Im Fall von Annette Hünefeld, Diplom-Pädagogin und stellvertretende Vorsitzende der Deutschen Leukämie- & Lymphom-Hilfe e. V. (DLH), war es ein solcher Zufall – die Erkrankung eines Freundes an Chronischer Myeloischer Leukämie (CML). Das war Anfang der 1990er-Jahre. Schnell merkten sie, dass es anderen in ihrer Situation ähnlich geht und diese mit ähnlichen Problemen zu kämpfen hatten. Dies war der Startschuss zur Gründung der bundesweit ersten Leukämie-Selbsthilfegruppe in Münster.

Im Gespräch berichtet Hünefeld über die Bedeutung einer übergeordneten Stelle für die Förderung lokaler und regionaler Selbsthilfeinitiativen ebenso wie über die Entwicklung der Selbsthilfearbeit von einem belächelten Verein hin zur gefragten Expertenmeinung im Gemeinsamen Bundesausschuss (G-BA).

Die Diplom-Pädagogin und Psychoonkologin Annette Hünefeld ist Gründungsmitglied der Deutschen Leukämie- & Lymphom-Hilfe – Bundesverband.

Die DLH ist der Bundesverband der regionalen Leukämie- und Lymphom-Selbsthilfe. Was gehört zu den Aufgaben und wieso bedarf es eines Bundesverbands als übergeordneter Stelle?

Annette Hünefeld: Die DLH wurde 1995 gegründet. Bundesweit gab es damals nur sechs Selbsthilfegruppen für Leukämien bei Erwachsenen. Unter diesen Gruppen gab es lediglich einen sporadischen Austausch, bei dem wir feststellten, dass jede Gruppe mit den gleichen organisatorischen Problemen zu kämpfen hat, wie z. B. passende Räume für die Gruppentreffen zu finden oder aber Gelder für Druckkosten von Vereinsflyern.

Die Gründungsidee für den Bundesverband bestand also hauptsächlich darin, den regionalen Gruppen die Arbeit zu erleichtern, Handreichungen zur Verfügung zu stellen, sodass nicht jede Gruppe von Null starten muss. Ein weiterer Grund für die Gründung des Bundesverbands war, politisch sichtbarer zu werden. 1995 gab es z. B. noch relativ wenige Kliniken, in denen Knochenmarktransplantationen durchgeführt wurden. Zu damaliger Zeit ein großes Problem . Die einzelnen kleinen Gruppen konnten auf politischer Ebene nicht viel bewegen. Im Gegensatz dazu konnte der Bundesverband als Vertreter vieler Patienten Defizite aufzeigen und Veränderungen initiieren.

Später wurde der sogenannte Patientenbeistand etabliert. Dieser unterstützt vor allen die Leiter der regionalen Selbsthilfegruppen in ihrer Arbeit. Des Weiteren können sich Betroffene, die keinen Ansprechpartner vor Ort gefunden haben oder sich aus unterschiedlichsten Gründen keiner Gruppe anschließen möchten, an diesen wenden. Aber auch Ärzte und andere Interessierte können sich an den Patientenbeistand wenden. Das ist seit 1995 so, den Patientenbeistand in Bonn gibt es immer noch.

Derzeit vertreten wir 87 Mitgliedsgruppen, unterstützen vier Regionalverbände, darunter einen in Hessen, und zwei überregionale Arbeitsgemeinschaften. Gerne hätten wir in diesem Jahr mit allen unser 25-jähriges Bestehen gefeiert.

Wie haben sich die Aufgaben und die Arbeit im Laufe der Zeit verändert?

Hünefeld: Es sind verschiedene Aufgaben dazugekommen. Als wir angefangen haben, gab es kaum patientenverständliches Informationsmaterial, z. B. Broschüren zu einzelnen Erkrankungen. Einzig die nordrhein-westfälische Krebsgesellschaft gab ein kleines Informationsheftchen zu Leukämie heraus. Es gab großen Informationsbedarf und wir haben in Zusammenarbeit mit Ärztinnen und Ärzten Informationsmaterial erarbeitet, gedruckt und an die Patienten verteilt. Seit 1996 erscheint die „DLH Info“, unsere Verbandszeitung für Mitglieder und Interessierte, die dreimal jährlich erscheint und u. a. über neue medizinische Entwicklungen berichtet.

Zu Beginn unserer Arbeit wurden wir auf lokaler Ebene teilweise sehr belächelt oder auch abgelehnt. Die Treffen der regionalen Gruppen wurden als Kaffeekränzchen oder als „Jammerrunde“ abgetan. Andere befürchteten, wir würden uns Kompetenzen anmaßen, die uns gar nicht zustehen. Die Patienten würden von uns verrückt gemacht werden.

Nicht jeder Arzt war über einen informierten Patienten begeistert. Diese Einstellung hat sich, auch durch die Gründung der DLH und deren gute Arbeit, im Laufe der Jahre zum Glück sehr geändert, sodass die Patientenseite in vielen Gremien mittlerweile aktiv angefragt wird. So sitzt Dr. med. Ulrike Holtkamp, die im Patientenbeistand der DLH tätig ist, beispielsweise auch als Patientenvertreterin im G-BA und im Bundesministerium für Arbeit und Soziales. Wir haben zwar kein Stimmrecht, aber wir werden zumindest gehört. Auch in Klinikvorständen sind einzelne Vorstandsmitglieder der regionalen Gruppen vertreten. Es hat sich auf politischer Ebene ganz viel getan, wo wir die Interessen der Patienten vertreten können. Jetzt stehen wir vor der Herausforderung, die Veränderungen in Bezug auf Social Media und virtuelle Veranstaltungen mitzugestalten.

Wie kam es Ihrer Meinung nach zu diesem Umdenken bezogen auf die Arbeit der Selbsthilfe?

Hünefeld: Ich denke, es ist unsere Beharrlichkeit gewesen. Auch weil wir gezeigt haben, dass wir nicht gegen Ärztinnen und Ärzte, sondern mit ihnen arbeiten wollen. Das Selbsthilfe-Spektrum ist sehr heterogen und die verschiedenen Gruppen können nicht über einen Kamm geschoren werden. Wir haben unseren Selbsthilfegruppenleitern von Anfang an verschiedene Fortbildungen angeboten, um diese weiterzubilden und zu qualifizieren.

Die Kombination aus Beharrlichkeit und einer entsprechenden fachlichen und sozialen Kompetenz hat meiner Meinung nach zu einem Umdenken geführt. Wobei die medizinische Beratung immer den Ärztinnen und Ärzten vorbehalten bleibt. Es ist nicht unsere Aufgabe, den Patienten zu sagen, was aus medizinischer Sicht die adäquate Vorgehensweise oder beste Therapieoption ist. Es ist vielmehr Aufgabe von Selbsthilfe, insbesondere in Erstgesprächen, wenn die Diagnose gerade erst gestellt wurde, als Übersetzer zu fungieren. Die meisten Betroffenen befinden sich in einer Art Schockzustand und sind nicht in der Lage, alle Informationen zu verarbeiten. Eine weitere wichtige Aufgabe der DLH ist es, als Wegweiser durch das Gesundheitssystem zu führen. Bei Bedarf ermutigen wir die Patienten auch, sich eine Zweitmeinung einzuholen.

Wie finanzieren Sie Ihre Arbeit?

Hünefeld: Geldgeben bedeutet Einflussnahme. Wir haben immer schon darauf geachtet, nicht von einem Geldgeber abhängig zu sein. Früher haben wir auch Spendengelder von Pharmafirmen bekommen. Um aber jegliche Einflussnahme auszuschließen und wirklich unabhängig mit dem zu sein, was wir machen, nehmen wir, die DLH, aber auch die uns angeschlossenen Selbsthilfegruppen, seit 2012 überhaupt keine Spenden mehr von Pharmafirmen an. Unsere Arbeit wird finanziert durch die Gemeinschaftsförderung der Krankenkassen, Spenden, durch Mitgliedsbeiträge und letztendlich durch die Deutsche Krebshilfe.

Ohne die Deutsche Krebshilfe würde es die DLH in heutiger Form nicht geben können. Sie hat uns von Anfang an unterstützt und ist auch heute noch unser überwiegender Geldgeber. Um langfristig eine finanzielle Unabhängigkeit zu erreichen, hat die DLH 2010 eine eigene Stiftung gegründet, die seit 2014 profitabel arbeitet und die DLH jährlich mit einem Zuschuss unterstützt.

Welchen Stellenwert hat die Selbsthilfe aus Ihrer Sicht heute?

Hünefeld: Die gesundheitsbezogene Selbsthilfe ist die vierte Säule des Gesundheitssystems. Zu diesem Ergebnis ist eine bereits vor Jahren durchgeführte Untersuchung gekommen. Wenn wir unsere Arbeit einstellen würden, müsste ein Milliardenbetrag aufgewendet werden, damit Ärzte, Krankenkassen oder andere Organisationen bzw. Institutionen diese Arbeit übernehmen könnten.

Haben Sie das Gefühl, dass Sie in Ihren Positionen auf politischer Ebene wahr- und ernst genommen werden?

Hünefeld: Ja. Wir werden zu bestimmten Problemen explizit um Stellungnahmen gebeten. Bei den Zertifizierungen auf lokaler Ebene werden auch regionale Selbsthilfegruppenvertreter durch Kooperationen eingebunden, wobei das nicht von jedem Zentrum gleichberechtigt angesehen wird. Im Bereich der Wahrnehmung durch die Politik sehe ich noch einige Luft nach oben.

Was ist Ihnen besonders wichtig bei Ihrer Arbeit? Gibt es etwas, was Sie sich für Ihre weitere Arbeit wünschen würden?

Hünefeld: Dass jeder Patient, der das möchte, einen kompetenten und adäquaten Ansprechpartner findet. Dass jeder Betroffene durch diese schwierige Zeit durch die DLH oder auch durch die Gruppen vor Ort geleitet wird und in dieser belastenden Krankheitssituation nicht alleine ist. Dass es Zugang zu unabhängigen Informationen gibt, die frei von irgendwelchen wirtschaftlichen Interessen sind. Das ist das, was uns antreibt.

Ich würde mich darüber freuen, wenn wir in den Gremien des G-BA nicht nur eine beratende Stimme hätten. Wir sollten bei der Vergabe der Selbsthilfefördermittel der Krankenkassen mitreden und vor allem in der Politik unsere Interessen vertreten können. Dort werden Entscheidungen getroffen. So könnten wir den Patienteninteressen noch mehr Gewicht verleihen.

Interview: Maren Grikscheit