In grauer Vorzeit, noch in der Schule, haben wir gelernt, dass dort, wo Mensch, Schwein und Geflügel oft in feuchtwarmen Regionen der Erde eng und unhygienisch zusammenleben, die Viren über die Arten springen, den Wirt wechseln und mutieren. So entstehen ständig neue Viren und Varianten, von denen dann manche als Pandemie („starke Ausbreitung einer Infektionskrankheit mit hohen Infektionszahlen und in der Regel auch mit schweren Krankheitsverläufen“) sich weltweit verbreiten. Dies ist der Grund dafür, dass wir zum Beispiel jedes Jahr neu gegen die Grippe impfen müssen. So irgendwie (Fledermaus? Pangolin? Fischmarkt?) muss auch das Coronavirus in Wuhan entstanden sein – eine Gesandtschaft der WHO hat wochenlang vor Ort eruiert, letztlich ohne greifbares Ergebnis.

Seit knapp einem Jahr ist es eindeutig erkennbar, dass diese Pandemie vor allem für alte Menschen, insbesondere für Männer gefährlich ist, nach dem Motto: „Je älter, umso schlimmer der Krankheitsverlauf.“ Die Sterbewahrscheinlichkeit eines 80-Jährigen mit SARS-CoV-2 Infizierten liegt bei ca. 15 % (RKI1). Bis heute (Stand 1. März 2021) haben wir 70.152 Todesfälle zu beklagen (Johns Hopkins-Universität), mit einem durchschnittlichen Sterbealter von 84 Jahren, signifikant mehr Männer als Frauen (Robert Koch-Institut). Gut die Hälfte aller Todesfälle betraf Pflegeheimbewohner. An den Folgen des Rauchens sterben in Deutschland jährlich 121.000 Menschen (Deutsches Ärzteblatt 46/2015).

Die pandemiebedingten Mehrausgaben des Bundes für die Jahre 2020/2021 dürften sich in der Summe auf ca. 400 Milliarden Euro belaufen (pro Kopf Bevölkerung ca. 5.000 Euro Neuverschuldung, über 20 bis 30 Jahre Laufzeit ca. 150 Euro jährlich zu tilgen zuzüglich Zinsen). Weitere Schäden sind wie vorprogrammiert durch die verschobenen Insolvenzen, die künftig fehlenden Steuereinnahmen, die zu erwartende Verödung der Innenstädte. Der im Rahmen der EU über gemeinsame Langzeitverschuldung finanzierte „Wiederaufbaufonds Next Generation EU“ in Höhe von 750 Mrd. Euro sei hier nur am Rande erwähnt.

Zunehmend Heimarbeit, vorübergehend geschlossene Kindergärten und Schulen, fehlende Ausbildungsplätze, Fernunterricht prägen das Bild – die stets als Allheilmittel gepriesene Digitalisierung ersetzt keinen Sport, keine Aufsicht, von Kindererziehung spricht keiner mehr. Immer mehr Jugendliche leiden an Immobilität, Überernährung, Isolierung, an psychischer und sozialer Fehlentwicklung, ganze Entwicklungsphasen gehen verloren. Viele entstandene Defizite, verpasste Chancen werden in den späteren Jahren nicht mehr aufzuholen sein.

Da sich solche Pandemie-Szenarien mit neuen und mutierenden Viren jederzeit wieder ergeben können und sich wiederholen werden, ist es unerlässlich, sich mit einigen auch ethisch schwierigen und unangenehmen Fragen bewusst auseinanderzusetzen. Welche „Kollateralschäden“ an Menschen (physisch und psychisch) und Material (siehe oben) kann/muss die Gesellschaft in Kauf nehmen?

Allmählich kristallisiert es sich heraus, dass gegen SARS-CoV-2, einschließlich der Mutationen, anscheinend die meisten Impftechniken wirksam sind: sowohl teure, innovativ-experimentelle (mRNA) als auch Vektoren, inaktivierte Viren oder womöglich auch Impfstoffe klassisch auf Basis rekombinanter Antigene hergestellt. Dies impliziert die Frage nach der Begründbarkeit von Grundrechtseinschränkungen für die Allgemeinheit in einer sich abzeichnenden Situation, wo Leib und Leben der eigentlich gefährdeten Personengruppen durch angemessene Maßnahmen, insbesondere durch eine Impfung individuell und wirkungsvoll geschützt werden können.

Michael Andor, Präsidiumsmitglied der Landesärztekammer Hessen

„Viele Defizite werden nicht mehr aufzuholen sein.“