„Das Alter als Aufgabe und Erfüllung“ – ein Festvortrag von Prof. Andreas Kruse

Das 151. Bad Nauheimer Gespräch eröffnete mit einem Festakt: Dr. med. Ingrid Hasselblatt-Dietrich, die die Bad Nauheimer Gespräche (BNG) zwei Jahrzehnte lang organisiert und moderiert hatte, wurde für ihren Einsatz geehrt. „Sie ist die Repräsentantin der BNG“, würdigte Dr. med. Gottfried von Knoblauch zu Hatzbach (Vorstandsvorsitzender der BNG und Altpräsident der Landesärztekammer Hessen) die ehemalige Leiterin der Chirurgischen Abteilung des Frankfurter Krankenhauses Sachsenhausen. Seit der Gründung 1970 habe sie den BNG begleitet: erst als Teilnehmerin, später „als versierte und kompetente Referentin“ und von 2000 bis 2020 als 1. Geschäftsführendes Vorstandsmitglied.

Die Dankesworte des Präsidenten der LÄKH Dr. med. Edgar Pinkowski, der krankheitsbedingt fernbleiben musste, überbrachte Präsidiumsmitglied Dr. med. Jürgen Glatzel. Er nahm Bezug auf die Auszeichnungen, die Hasselblatt-Dietrich zuteil geworden sind: u. a. das Bundesverdienstkreuz, der Hessische Verdienstorden, die Ehrenplakette der LÄKH in Gold und die Paracelsus-Medaille der Deutschen Ärzteschaft. Es sei ihrem Gespür für gesellschaftlich relevante Fragestellungen zu verdanken, dass die BNG bis heute eine breite Themenpalette abdecken: von medizinischer Sterbebegleitung über therapeutisches Klonen bis hin zu gesunder Ernährung. Die Vizepräsidentin der LÄKH Monika Buchalik betonte den Vorbildcharakter von Hasselblatt-Dietrichs Wirken.

Als eine der wenigen Ärztinnen ihrer Generation, die sich neben dem Beruf in ärztlichen Verbänden und Körperschaften – u. a. als Vorstandsmitglied der Bundesärztekammer, als Präsidiumsmitglied der LÄKH oder als Stellv. Bundesvorsitzende des Hartmannbundes – ehrenamtlich engagiert hat, ist die Frankfurterin Wegbereiterin für Frauen in der Medizin.

Hier ergriff die Geehrte das Wort: Sie sei erfreut, könne den Dank jedoch nicht alleine annehmen. Erst die ständige Unterstützung – u. a. von den ehemaligen Präsidenten der LÄKH Dr. med. Alfred Möhrle, Dr. med. Ursula Stüwe und Dr. von Knoblauch zu Hatzbach, aber auch von der Zahnärztekammer Hessen und der Kassenzahnärztlichen Vereinigung (KZVH) in Gestalt ihrer Sprecher Jörg Pompetzki bzw. Dr. Veit Justus Rollmann, von der Leiterin der LÄKH-Stabsstelle Medien Katja Möhrle sowie von der langjährigen Büroleiterin Sigrid Sterz – hätte die BNG zu der Veranstaltungsreihe geformt, die sie heute seien. Durch die BNG habe sie Herzensthemen verwirklichen können: etwa Patientenrechte oder Ethik in der Medizin. Hasselblatt-Dietrich beendete ihre Dankesrede mit Grüßen an ihre Nachfolgerin, die ehemalige Stellv. Leiterin des Frankfurter Gesundheitsamtes Prof. Dr. med. Ursel Heudorf, die die Organisation der BNG 2020 übernommen hatte.

Die Ehrung erfolgte in (analoger wie digitaler) Anwesenheit zahlreicher geladener Gäste: Prof. Dr. Mona Abdel Tawab (Beisitzerin Landesapothekerkammer), Dr. Michael Frank und Dr. Wolfgang Klenner (Präsident und Vizepräsident Landeszahnärztekammer), Dr. jur. Karin Hahne (Präsidentin Verband Freier Berufe in Hessen), Dr. med. Andreas Knollmeyer (Direktor für Health Policy Sanofi-Aventis Deutschland GmbH), Stephan Allroggen und Dr. med. dent. Niklas Mangold (Vorstandsvorsitzender und Stv. Vorstandsvorsitzender KZVH), Bernd Posdzich (Direktor Apobank und Schatzmeister der BNG) sowie Stefan Sydow (Leiter der Abteilung Gesundheit, Hessische Ministerium für Soziales und Integration).

Die Potenziale des Alters

„…Und jedem Anfang wohnt ein Zauber inne/Der uns beschützt und der uns hilft, zu leben“: Mit zahlreichen Zitaten aus Literatur (wie Hermann Hesses Gedicht „Stufen“), Philosophie und Musik lieferte der Referent des Abends – der Psychologe und Gerontologe Prof. Dr. Dr. h.c. Andreas Kruse, der neben Psychologie auch Philosophie und Musik studiert hatte – ein Gesamtbild des Alters als ein großes Potenzial. Das Alter, so der Ordinarius und Direktor des Instituts für Gerontologie an der Ruprecht-Karls-Universität Heidelberg, sei eine weitere Lebensstufe, die ihre eigenen Herausforderungen berge, an deren Überwindung man seelisch-geistig wachsen könne. Der international renommierte Gerontologe, der u. a. die Vereinten Nationen und die Bundesregierung beraten hat, Mitglied des Deutschen Ethikrates sowie Träger des Bundesverdienstkreuzes ist, nutzte den Abend, um das Alter in einer positiv-lebensbejahenden Perspektive erstrahlen zu lassen: als Potenzial für Kreativität und gesellschaftliches Engagement durch den Dienst an jüngeren Menschen.

Rückblick und eine neue Aufgabe

Die seelischen Entwicklungsprozesse erwüchsen aus dem Rückblick am Lebensabend, aus der persönlichen Auseinandersetzung mit dem eigenen Leben und der eigenen Endlichkeit, sowie aus der daraus entstehenden Suche nach einer neuen Lebensaufgabe in Form der Weitergabe von Wissen an Jüngere. Hier zitierte Kruse den Wiener Psychologen Viktor Frankl. Dieser hatte in „Der Wille zum Sinn“ (1972) postuliert, Sinn erhalte das menschliche Leben in dem Maße, in dem wir „das Leben in den Dienst von etwas stellen, das man nicht selbst ist“, das also außerhalb unserer selbst liegt und den Dienst am Anderen ausmacht. Als Beispiel für das Ineinandergreifen von Rückblick und sozialem Engagement nannte Kruse seine Studien zu Holocaustüberlebenden. Die oftmals unterdrückten Traumata werden im hohen Alter reaktiviert – doch diese Wiederkehr des Schreckens bringe die Überlebenden auch dazu, sich um die junge Generation zu sorgen und sie, etwa durch Vorträge an Schulen, aufzuklären und zu warnen.

Generativität: Voneinander lernen

In dem Maße, in dem die Hochbetagten (ab 80 Lebensjahren) von dem Austausch mit den Jüngeren profitieren, können auch die Jungen von den Alten lernen: neben der Weitergabe konkreten Wissens insbesondere Resilienz durch den Umgang mit Grenzsituationen und der eigenen physischen Verletzlichkeit.

Die heilsame Wirkung intergenerationeller Beziehungen für alle Beteiligten veranschaulichte Kruse am Beispiel eines von ihm mitveranstalteten Flüchtlingskongresses in Heidelberg 2015. Dort wurden junge Flüchtlinge mit älteren Bürgerinnen und Bürgern zusammengebracht, um von diesen in die neue deutsche Lebensrealität eingeführt zu werden. Die entstandenen Kontakte wurden wissenschaftlich begleitet und als für alle Beteiligten überaus erfolgreich eingestuft. Die zeitgenössische (Palliativ-)Medizin müsse dieses Potenzial sehen und fördern – statt die alten Menschen auf ihre Gebrechlichkeit („Frailty“) zu reduzieren. „Wenn wir Menschen auf sich selbst zurückwerfen und ihnen die Möglichkeit nehmen, eigene Erfahrungen produktiv weiterzugeben“, mahnte Kruse, „verharren sie in eigener Pflegebedürftigkeit und Hinfälligkeit. Dabei ist Hinfälligkeit auch bei chronischen Erkrankungen wie Arthritis oder Diabetes Mellitus Typ 2 nie nur physischen Prozessen geschuldet.“

Kruse zitierte in diesem Zusammenhang Camus’ „Mythos des Sisyphos“: Die Tage gleichen sich, das Leben erscheint als ein einziger Leerlauf. Erst die Verantwortung für andere, die Camus in Anlehnung an Heidegger „Sorge“ nennt, hilft dabei, auch für sich selbst aktiv zu werden. So brauche auch ein jeder ältere Mensch eine sinnerfüllte Lebensaufgabe – ganz egal ob groß oder klein. Das Alter aus dieser Perspektive betrachten zu lernen, sei eine große gesamtgesellschaftliche Aufgabe und umfasse Kultur wie Politik.

Psychische Qualitäten des Alters

Die Potenziale des hohen Alters fasste Kruse anschaulich zu vier Punkten zusammen:

Introversion mit Introspektion: Im hohen Alter vertiefen sich Menschen im Lebensrückblick in sich selbst und erlangen dadurch ein besseres Verständnis für psychische Prozesse. Dies führt zum Nachdenken über das Leben an sich. Hieraus erwachsen auch der ehrenamtliche Dienst an der Gesellschaft und die Bedeutung intergenerativer Beziehungen, die es nun gesamtgesellschaftlich zu integrieren und fruchtbar zu machen gilt.

Sorge: In Anlehnung an Camus’ „Sisyphos“ führt erst die Sorge um andere dazu, Verantwortung in der Gesellschaft zu übernehmen und eine sinnerfüllte Aufgabe im Leben zu suchen.

Offenheit: Eine nicht zu unterschätzende Aufgabe im hohen Alter ist es, sich die Offenheit und Lebensneugier zu bewahren.

Möglichkeit der Wissensweitergabe (ob Fach- oder generelles Lebenswissen)

Im Gegensatz zu diesen Chancen der geistigen Entwicklung bis ans Lebensende schilderte Kruse die Ängste, die in unseren heutigen Gesellschaften viele ältere Menschen umtreiben: die Angst vor Altersarmut, vor Krankheit und vor Vereinsamung. Es sei daher die große Aufgabe unserer Gesellschaft im Allgemeinen wie der (Palliativ-)Medizin im Besonderen, ältere Patienten zu motivieren, sich eine Aufgabe zu suchen und sich dadurch weiterhin nützlich zu fühlen.

Den jüdischen Philosophen und, wie man heute sagen würde, Allgemeinarzt Maimonides, der im 12. Jahrhundert die moderne medizinische Anthropologie begründete und die Gesunderhaltung in die drei Schritte Prävention/Prophylaxe, Therapie und therapeutische Begleitung bzw. Pflege bei chronischen Erkrankungen unterteilte, zitierte Kruse als das Vorbild des guten geriatrisch tätigen Arztes. Einen guten Arzt definierte Mosche ben Maimon selbst als jemanden, der mit dem Patienten etwas Geistiges teilt, mit ihm in einem (Zeit-)Punkt geistig übereinstimmt. Durch das darauf gründende Vertrauen gelingt es dem guten Arzt, seine Patienten durch chronische Krankheiten zu führen und bis zum Lebensende zu begleiten.

J. S. Bach: Realisiertes Potenzial

Das große Beispiel für Produktivität und Kreativität bis ins hohe Lebensalter hinein ist für Kruse Johann Sebastian Bach. Dessen Alterswerk, dem Kruse ein eigenes Buch1 gewidmet hat, gilt dem Altersforscher als besonders kreativ und radikal. Im Laufe des Abends unterbrach Kruse immer wieder seinen Vortrag, um Bachs Choräle am bereitstehenden Flügel vorzutragen. So entstand ein Gesamtkunstwerk, das Psychologie geschickt mit Musik, Philosophie und Lyrik verband und mit allen Sinnen begreifbar machte, dass die menschliche Seele über bloße Kognition hinausgeht und auch in hohem Lebensalter selbst bei demenziellen Erkrankungen angesprochen werden kann – gleichermaßen Rat und Warnung an die (Palliativ-)Medizin.

Alla Soumm

1Andreas Kruse: Die Grenzgänge des Johann Sebastian Bach. Psychologische Einblicke. 2. Aufl., Heidelberg: Springer, 2014.