Das Wirksame des Unwirksamen, in positivem Sinne Placebo, im negativen Sinne Nocebo genannt, ist nicht zuletzt durch die evidence-based medicine und die überbordenden Mengen an Doppelblindstudien und Metaanalysen inzwischen ein viel diskutierter Faktor in der Medizin geworden – so weitgehend, dass viele Studien keinen über die Placebowirkung hinausgehenden Effekt zeigen können. Ein wichtiger Grund, sich mit dem zu beschäftigen, was in der Medizin „wirkt“. Mehrere Bücher zu dem Thema sind bemerkenswert:

Ulrike Neumaier, Pharmazeutin und Philosophin, beschäftigt sich in ihrer Dissertation mit der „Rache des Placebos“ und stellt dabei heraus, dass die vielfältigen Placeboeffekte die transparente Rationalität der Wissenschaft, der jeweiligen Techniken und damit letztlich die Frage nach der therapeutischen Kausalität unterlaufen. Die Lebenswirklichkeit der Patienten ist eben vom biologischen Modell weit entfernt und stellt die derzeitigen Erklärungsansätze der Medizin infrage.

Der Kölner Medienwissenschaftler Martin Andree kam über Medienwirkung und „mediale Ansteckungen“ (Hypes), Werbung, Propaganda und Manipulation zum Thema Placeboeffekte und legte dazu ein reichhaltiges, wenn auch etwas mühsam zu lesendes Buch vor, welches den Bogen sehr viel weiter fasst und viele gute Gedanken zu Medium – Mittler – Re-Medium, remedy enthält. Es ist unbestritten, dass es deutliche und objektivierbare therapeutische Effekte bei einer Vielzahl von Krankheiten und Beschwerden gibt, die sich neurobiologisch auch durch Veränderungen der neuronalen Schmerz- und Belohnungssysteme nachweisen lassen.

Eher im konventionellen Bereich der Placeboforschung bewegt sich das Bändchen „Wirkprinzipien der Placebo-Effekte in der medizinischen Behandlung“ von Ernst Hauck und Stefan Huster (Hrsg.), welches die Ergebnisse einer gleichnamigen Tagung in Berlin vom Oktober 2017 zusammenfasst und letztlich die Publikation „Placebo in der Medizin“ des Wissenschaftlichen Beirates der Bundesärztekammer, die 2011 federführend von Prof. Dr. phil. Robert Jütte im Deutschen Ärzteverlag Köln (nicht mehr lieferbar, wird nicht mehr aufgelegt) veröffentlicht wurde, aktualisiert und ergänzt, die wichtigen Fragen aber weiterhin offen lassen muss: Wie darf und kann ich diesen Januskopf von Placebo und Nocebo nutzen, oder noch weiter gefasst: Was wirkt eigentlich in der Medizin?

Damit beschäftigt sich auch ein weiteres Buch, obwohl mehr am Rande, aber dennoch eingehend: Es ist das des Onkologen und Psychotherapeuten Herbert Kappauf: „Was fehlt Ihnen“ (401 S., Norderstedt 2020, rezensiert im HÄBL 05/2020, S. 307). Er zeigt auf, dass Placeboeffekte, die er übergreifend Kontextfaktoren nennt, Rückgrat jeder Therapie sind. Und der wichtigste sei die Mit-Menschlichkeit. Er plädiert in Anlehnung an Konzepte der Integrierten Medizin Uexkülls in seinem Buch für eine mitmenschliche Medizin und stellt klar, welchen Einfluss das ärztliche Verhalten auf die Genesung der Patienten hat. Seine Hoffnung, dass diese Grundannahmen zu einer besseren Behandlungspraxis, zu einem reflektierteren Umgang mit Patienten und zu besserer Kommunikation führen, scheint mir angesichts einer immer stärker wissenschafts- und profitorientierten Medizin fraglich. Aber die Hoffnung stirbt zuletzt.

Ulrike Neumaier: Die Rache der Placebos – Zur Wirksamkeit des Unwirksamen in der evidenzbasierten Medizin und in der Wissenschaftsforschung.

transcript-Verlag Bielefeld, 2017, 266 Seiten kart., ISBN 9783837639926, € 29.99, auch als E-Book

Martin Andree: Placebo-Effekte – Heilende Zeichen, toxische Texte, ansteckende Informationen.

Wilhelm Fink Verlag München, 2018, 461 Seiten, kart., ISBN 9783770562756, € 46.64, auch als E-Book

Ernst Hauck und Stefan Huster (Hrsg.): Wirkprinzipien der Placebo-Effekte in der medizinischen Behandlung.

Nomos Verlag Baden-Baden, 2019. Softcover, 138 Seiten, ISBN 9783848749003, € 52, auch als E-Book

Herbert Kappauf: „Was fehlt Ihnen? Woher – wohin? Mut für eine mitmenschliche Medizin“.

Twentysix 2020, Paperback, 406 Seiten, ISBN-13: 9783740715083, € 22.80, E-Book € 13.99

Dr. med. Stephan Heinrich Nolte, Marburg