Haben Sie schon verstanden, was die neue, sogenannte Verhältnismäßigkeits-Richtlinie der EU bewirken wird? Die neue EU-Richtlinie belegt langjährig entwickelte Qualitätsregelungen zur Berufsausbildung, zur Fach-Weiterbildung und qualitativen Ordnung der Berufsausübung mit ministeriell vorgeschalteten, aufwendigen und hemmenden Begründungsauflagen. Politisch – ungeachtet des abgeforderten hohen Aufwandes – genannt „Deregulierung“. Die Richtlinie stellt strukturell die staatlich überwachte Selbstverwaltung der Arztberufe in Frage, die laut ihrem Leitbild „auf Grund besonderer beruflicher Qualifikation persönlich, eigenverantwortlich und fachlich unabhängig geistig-ideelle Leistungen im gemeinsamen Interesse ihrer Auftraggeber und der Allgemeinheit erbringt“. Die „RL-VHM-E“ wurde schon vor zwei Jahren verabschiedet und in der ärztlichen Öffentlichkeit wenig beachtet.

Die Richtlinie verfolgt den liberal-ökonomisch geprägten Gedanken, dass weniger oder niedrigere Zugangserfordernisse und konsequenter Abbau formaler Regeln der Berufspraxis „netto“ mehr Arbeitsplätze ergeben. Man glaubt dabei an insgesamt gut 700.000 neue Jobs in der EU und will die Binnenwirtschaft stärken. Einfache Botschaft in vermeintlich eindimensional kommunizierenden Röhren. Zwar wurde in Berlin und Brüssel heftiger Widerstand geleistet. Insbesondere für den Erhalt hoher Bildungs- und Ausübungsstandards in den hochkarätig ausgewiesenen Berufen von Ärzten und anderen freien Berufen. Es wurde wenig erreicht, zu divers sind die Interessen bei den auf den Binnenmarkt drängenden Staaten der Union.

Als Bürger in der Europäischen Union haben wir erfahren, dass an der Ökonomie und am Arbeitsmarkt orientierte Richtlinien, z. B. zu Gunsten gegenseitiger Berufsanerkennungen und dem Transfer von Dienstleistungen, durchaus kraftvoll wirken: Integration neuer EU-Mitglieder, fruchtbares Miteinander, freie Migration. Wir wissen aber auch, dass vor allem primär ökonomisch ansetzende Vorgaben wie z. B. Milchwirtschafts-Förderungen im Ergebnis Butterberge und andere unverständliche Fehlwirkungen bewirkt haben. Nicht selten geht der ökonomische Schuss auch für Klima und Gesundheit daneben. Was den Arztberuf angeht, stehen wir nun unmittelbar in der Gefahr, dass die Rahmensetzungen unserer Berufsordnung und der hoch entwickelten Weiterbildungsordnung sowie weitere als verlässlich erprobte und über Jahrzehnte entwickelte Qualitätsregelungen unseres Berufes „dereguliert“ werden sollen.

Seit dem 30. Juli 2020 ist die Richtlinie scharfgeschaltet, es drohen jetzt teure Vertragsverletzungs-Verfahren. Bundesregierung und Landesregierungen handeln seit ein paar Monaten und schaffen lokale Ausführungsgesetze, so auch Hessen. Federführend sind die Wirtschaftsministerien (sic!) und quasi im Nebenschluss die Sozial- und Gesundheitsministerien für die Gesundheitsberufe. Dem Gesetzgebungs-Prozess müssen wir aufmerksam folgen und laut für das Kernanliegen unseres Berufes eintreten, der Sicherung nachhaltiger und hoher Behandlungsqualität für die Patienten. Diese umschriebene Ausnahme in der Richtlinie hat die EU auf hohen Druck zum Erhalt der Patientensicherheit letztlich zugestanden.

Fordern wir das ein und kämpfen im eigenen Landesbereich dafür, die qualitätssichernde und dem besten Patientenschutz verpflichtete Berufsordnung und die kompetenzbasierte Weiterbildungsordnung im Arztberuf nicht bürokratisch verflachen zu lassen. Evidenzbasierte berufliche Struktur- und Prozessqualität ist auch immer dann wichtig, wenn Vorwürfen wegen vermeintlichen Fehlbehandlungen nachzugehen ist. Die über Jahrzehnte erprobten Handlungsvorgaben des Arztberufes in Deutschland müssen im Interesse aller Bürger erhalten bleiben. Von Krankheit und Gesundheitsstörungen Betroffene werden es uns danken.

Dr. med. H. Christian Piper, Mitglied des Präsidium der Landesärztekammer Hessen