Bei der Bekämpfung des Coronavirus kommt den Gesundheitsämtern eine große Bedeutung zu. Gleichzeitig wird deutlich, dass die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter an ihre Kapazitätsgrenzen stoßen. Jahrelange Sparmaßnahmen und Stellenabbau im Öffentlichen Gesundheitsdienst fordern ihren Tribut. Dr. med. Birgit Wollenberg, Leiterin des Gesundheitsamtes Marburg-Biedenkopf und Sprecherin der Arbeitsgemeinschaft der ärztlichen Leitungen der hessischen Gesundheitsämter, macht es deutlich: „Wir können die Krise meistern und erfahren gerade jetzt, wie wichtig unsere Arbeit ist. Das Problem ist aber die Menge.“

Arbeitsalltag in Zeiten von Corona

Die Fallzahlen gehen seit dem Lockdown im Landkreis Marburg-Biedenkopf deutlich zurück (Stand: 13. Mai). Ganz anders noch vor wenigen Wochen: „Als die Welle Mitte März anlief, hatten wir eine biologische Lage und mussten einen Krisenstab bilden. Das gesamte Gesundheitsamt haben wir auf das Thema Corona eingestellt und mussten alle anderen Aufgaben stilllegen“, beschreibt Birgit Wollenberg die Situation. Normalerweise besteht ihr Team im Bereich Infektionsschutz aus sieben Personen: zwei Ärzte, vier Gesundheitsaufseher und eine Verwaltungsfachkraft. Aktuell sind es 40.

Sobald vom Labor ein positiver Befund gemeldet wird, beginnt die Fallermittlung: Wer ist die Person, wo befindet sie sich, muss ein Absonderungsbescheid gemacht werden, wo hat sich die Person angesteckt? Wer sind ansteckungsverdächtige Kontaktpersonen?

Ein weiteres Aufgabenpaket, das darauf folgt, ist die Dokumentation. „Die Daten sind sehr umfangreich und es muss viel für einen einzelnen Fall recherchiert werden“, erläutert Wollenberg. Risikokonstellationen, beruflicher Kontext, Vorerkrankungen, Dauer der Erkrankung, stationäre Behandlung, ob eine Beatmung erfolgt ist, ob die Person aus einem Risikogebiet kommt – und noch viele weitere Details müssen in eine bestimmte Software eingegeben werden, um im nächsten Schritt an das Robert Koch-Institut (RKI) übermittelt zu werden. Doch damit hören die Aufgaben noch lange nicht auf: Handlungsempfehlungen für Kitas, Schulen, tägliches Monitoring der Covid-19-Erkrankten und der engen Kontaktpersonen, Pressearbeit, Betreuung der Hotline für Bürgeranfragen, die auch bei bei seelischen Nöten im Corona-Kontext weiterhilft, Verteilung von Schutzausrüstung insbesondere an Alten- und Pflegeheime oder auch die Bearbeitung von Bußgeldbescheiden bei Verstößen gegen die Landesverordnungen. Auch Samstag und Sonntag geht die Arbeit weiter.

Das Thema Alten- und Pflegeheime ist Wollenberg besonders wichtig. „Sobald ein Alten- oder Pflegeheim betroffen ist, ist die Gefahr einer Ausbreitung besonders hoch. Denn gerade die Menschen dort haben das Risiko eines schweren Verlaufs, auch ist die Gefahr der Ausbreitung unter Mitarbeitenden und Bewohnern besonders hoch. Deshalb haben wir die Task Force ‚Pflege und Corona’ gegründet.“ Ein Team aus sechs Personen sucht alle stationären Alten- und Pflegeheime im Landkreis präventiv auf, um diese speziell zu aktuellen Hygiene- und Abstandsregelungen zu beraten. Es wird besprochen, was im Falle eines Ausbruches zu tun ist, welche Isolationsmöglichkeiten vorhanden sind und wie das Personal eingeteilt werden könnte. Die Task Force springt auch ein und nimmt umgehend Abstriche bei symptomatischen Mitarbeitenden und Bewohnern, wenn es den niedergelassenen Kollegen nicht möglich ist. Auch am Wochenende und an den Feiertagen ist die Task Force „Pflege und Corona“ einsatzbereit.

„Bislang gab es im Kreis Marburg-Biedenkopf zum Glück keinen Ausbruch in einem Alten- oder Pflegeheim, aber wir hatten schon häufiger Recherchearbeit und Verdachtsfälle.“ Nach Wollenbergs Wunsch sollte jedes Gesundheitsamt in der Lage sein, sich so intensiv kümmern zu können. Doch das sei angesichts der mangelnden Ressourcen insbesondere bei kleineren Ämtern kaum möglich.

Alte und neue Herausforderung: Personalknappheit

Um den vielen neuen Anforderungen gerecht zu werden, seien als Erstes Mitarbeiter aus anderen Bereichen des Gesundheitsamtes eingesprungen. „Wir sind ein mittelgroßes Gesundheitsamt und haben immer 65–70 feste Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter. Daher haben wir einen gewissen Spielraum und konnten in der akuten Krise sofort reagieren. Kleinere Gesundheitsämter kommen da unmittelbar in ganz große Schwierigkeiten.“ Doch auch in Marburg-Biedenkopf konnte das Gesundheitsamt die erforderliche Personalmenge nicht allein stemmen. „Wir haben zusätzlich Hilfe aus anderen Bereichen der Verwaltung erhalten, z. B. aus der Altenhilfeplanung; auch Mitarbeiter aus dem Veterinäramt sind eingesprungen. Eine ganz große Hilfe sind außerdem die Medizinstudierenden, die sich bei uns gemeldet und kurzfristig Verträge bekommen haben. Eine Ärztin haben wir befristet neu eingestellt und von der Bundesagentur für Arbeit wurden zwei Ärzte abgeordnet. Auch über den Aufruf der Landesärztekammer haben wir einen weiteren Arzt gewinnen können.“

Die neuen Aufgaben und die vielen neuen Mitarbeiter erfordern wiederum weitere planerische Ressourcen. So sei allein eine Person nur mit Personaleinteilung und -akquise beschäftigt.

Trotz regionaler Unterschiede habe nun eine neue Phase begonnen: „Die erste Herausforderung haben wir bewältigt. Neues Personal und vor allem Notfallmechanismen wie Urlaubssperren, Stundenaufstockung bei Teilzeitkräften, Überstunden – so könnten wir die Krise irgendwie schaffen“, resümiert Wollenberg diese Phase. Jetzt sei der Punkt gekommen, wo man sich auf einen Dauerbetrieb in der Pandemie einstellen müsse. „Wir müssen davon ausgehen, dass es sich auf einem gewissen Niveau einpendelt und wir eine Dauerbearbeitung von Corona-Fällen haben.“ Ob die Gesundheitsämter einen erneuten exponentiellen Anstieg in einer zweiten Welle schaffen würden, bezweifelt sie jedoch.

Die Herausforderung sei jetzt, dass die zusätzlichen Mitarbeiter nun langsam wieder abgezogen werden und an ihre eigentlichen Arbeitsplätze zurückkehren. „Uns bröckelt das Personal gerade wieder weg.“ Aber auch das am meisten belastete medizinische Stammpersonal bräuchte eigentlich dringend eine Pause. „Es ist jedoch niemand da, der einspringt. Im Gegenteil, wir haben jetzt schon wieder beginnende Personalknappheit. Das ist die Herausforderung, vor der wir gerade stehen.“

Damit auch die anderen Pflichtaufgaben des öffentlichen Gesundheitsdienstes, wie z. B. im Kinder- und Jugendärztlichen Dienst, wieder aufgenommen werden können, brauche es jetzt noch viel mehr Personal. Zwar ist vom Land vorgesehen, dass je fünf Personen auf 20.000 für die Kontaktpersonenermittlung und Fallrecherche für die Arbeit rund um Corona zur Verfügung gestellt werden. Konkrete Hilfe gebe es derzeit jedoch noch nicht. Die enorme Belastungssituation für ihre Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter hatte Wollenberg als Amtsleitung stets im Blick. „Wir haben von Anfang an darauf geachtet, dass diejenigen, die Überstunden machen und am Wochenende arbeiten, immer zeitnah zwei ganze Tage frei bekommen. Das hat in der akuten Krise geholfen, ist aber auf lange Zeit zu wenig.“

Die Bereitstellung des Personals ist das Wichtigste, was Wollenberg von der Politik erwartet. „Wir brauchen dieses zusätzliche Personal, aber nicht allein für Fallermittlung und Kontaktpersonenrecherche, das ist zu kurz gedacht.“ Dies sei zwar ein großes Aufgabengebiet, an dem aber viele andere dranhängen. Kein Gesundheitsamt, so wie es bisher aufgestellt ist, würde dies schaffen.

Auch fachliche Unterstützung seitens des RKI oder des HLPUG in Form von Schulungsmaterialien für die neuen Mitarbeiter-innen und Mitarbeiter sei notwendig. „Bei den vielen neuen Mitarbeitern braucht es eine systematische Kontrolle der Qualität. Es wäre schön, wenn nicht jedes Gesundheitsamt das einzeln ausdenken und wieder eine eigene Ressource reinstecken müsste. Eine zentrale Schulung, bevor die Leute in die Gesundheitsämter kommen, das wäre hilfreich.“

Es kommt auf Fachexpertise an

Auch für die Amtsleitungen selbst sei die Arbeit sehr intensiv. Unzählige Absprachen und Sitzungen in Form von Telefon-, Video- und auch Präsenzkonferenzen seien derzeit notwendig: interne Besprechungen der Gesundheitsämter untereinander, wöchentliche Besprechungen mit den Ministerien, Fachbesprechungen zur Organisation der ambulanten und stationären Versorgung oder mit den Stadtkreisverwaltungen über den Umgang mit Kitas und Schulen, Mitwirkung in den Planungsstäben für die stationäre Versorgung. „Die heftigste Belastung für das Führungspersonal der Gesundheitsämter ist im Moment aber die Sorge, was ist, wenn das fachliche Stammpersonal des Infektionsschutzes wegbricht aufgrund der Arbeitsbedingungen? Es steht und fällt damit, dass die relativ wenigen Personen das jetzt durchhalten.“ Es räche sich gerade, dass die Gesundheitsämter in den vergangenen Jahren und Jahrzehnten immer weiter runtergespart und abgebaut wurden. Teilweise seien Gehälter auch so unattraktiv, dass es schwierig gewesen sei, gutes Fachpersonal einzustellen.

„Der Schutz der Bevölkerung ist eine der Kernaufgaben der Gesundheitsämter.“ Während dies normalerweise eine langfristige und nachhaltige Aufgabe sei, entsprechende Netzwerke für Gesundheitsförderung und Prävention in den Kommunen aufzubauen und zu unterstützen, zeigt sich in der Krise das gesamte Potenzial des Öffentlichen Gesundheitsdienstes. „Es kommt jetzt auf unsere Fachexpertise an, das merken wir. Es zahlt sich jetzt aus, dass wir als Fachärzte für Öffentliches Gesundheitswesen ausgebildet sind und dass die Leitungen der Gesundheitsämter diese Qualifikation haben müssen.“ Bestrebungen, aufgrund eines Fachärztemangels die Stellenanforderung herabzusetzen, seien nicht akzeptabel. „Der Facharztmangel muss umgehend durch gezielte Förderprogramme behoben werden“, fordert Wollenberg hingegen. In Kassel und Frankfurt gebe es diese bereits, und auch in Marburg-Biedenkopf sei das geplant.

Da es keinen Lehrstuhl für ÖGD gebe, kämen Studierende – wenn überhaupt – nur wenig mit dem Fach in Berührung, was Wollenberg als klares Manko bezeichnet. Auch die Bezahlung – Ärzte des ÖGD sind die einzigen angestellten Ärzte, die nicht nach dem Ärztetarif bezahlt werden – müsste entsprechend angepasst werden. „Wir werden nach Verwaltungstarif bezahlt, und dieser beinhaltet keinerlei Differenzierung hinsichtlich der Position. Facharzt ist die höchste Entgeltstufe, unabhängig ob Sie in leitender Position sind oder nicht.“ Das sei ein strukturelles Problem, das unbedingt behoben werden müsse.

„Die Gesundheitsämter benötigen eine dauerhafte personelle Aufstockung mit Fachpersonal“, lautet bereits jetzt Wollenbergs Fazit aus der Pandemie. „Nur dann können wir auch die nächste Krise überstehen.“

Maren Grikscheit