Berufsrechtliche Anforderungen an die Ausstellung von ärztlichen Zeugnissen

I. Sachverhalt

Mit Urteil vom September 20201 hat das Berufsgericht für Heilberufe bei dem Verwaltungsgericht Gießen gegen einen Facharzt für Nervenheilkunde mit der Berechtigung zum Führen der Gebietsbezeichnung „Psychiatrie und Psychotherapie“ (Beschuldigter) eine „Warnung“ ausgesprochen (vgl. § 50 Hessisches Heilberufsgesetz –HeilBG). Der Beschuldigte war im Zeitraum des zugrunde liegenden Geschehensablaufs leitender Arzt/Chefarzt der Psychiatrischen Abteilung einer Klinik. Ihm war in der Anschuldigungsschrift vorgeworfen worden,

  1. als verantwortlicher Leiter der entsprechenden Abteilung es zugelassen zu haben, dass bei einem Patienten die Aufnahmediagnose „Verdacht auf F 43.1 „Posttraumatische Belastungsstörung“ ohne fachmedizinisch angezeigte bzw. falladäquate Diagnostik als sicher feststehende Diagnose in den Unterlagen geführt und in ärztlichen Zeugnissen gegenüber Behörden angegeben wurde;
  2. es weiter zugelassen zu haben, dass in vier ärztlichen Zeugnissen der Stationsarzt, ein Arzt in Weiterbildung, im Namen der Klinik ärztliche Zeugnisse ausstellte, welche zum einen die in Wahrheit noch ungesicherte Diagnose „F 43.1 Posttraumatische Belastungsstörung” aufwiesen und so den Anschein einer sichergestellten Diagnose erweckten, und zum anderen in drei Fällen die Angabe enthielten, dass die Ehefrau und die Kinder des Patienten in Deutschland (X Stadt) wohnten, obwohl diese nach erfolgter Abschiebung tatsächlich wieder im Kosovo wohnten, was den Ärzten auf der Station auch bekannt war;
  3. ferner sich nach der am xx.xx.20xx vollzogenen Abschiebung des Patienten in den Kosovo in der Öffentlichkeit in einer Weise über einen anderen Arzt äußerte, die geeignet war, das Ansehen der Ärzteschaft zu beschädigen.

Berufsvergehen2

Hintergrund dieser Anschuldigungen sind Vorgänge im Zusammenhang der Abschiebung eines abgelehnten Asylbewerbers kosovarischer Staatsangehörigkeit in den Kosovo. Dieser hatte sich zwei Tage nach endgültiger negativer Beendigung seines Asylverfahrens in Begleitung seiner Rechtsanwältin als Notfall in der Klinik des Beschuldigten vorgestellt. Im Aufnahmeprotokoll notierte der Leiter der Traumaambulanz, ein Diplom-Psychologe, die Diagnosen F43.1 (PTBS) und F32.2 (schwere depressive Episode) nach ICD-10 und „Hinweise auf deutliche Suizidalität bei fraglicher Absprachefähigkeit mit Eigengefährdung“.

Der Patient wurde auf die offene Station des Beschuldigten aufgenommen. Dort verständigte sich der Assistenzarzt, ein Arzt in Weiterbildung, mit dem Patienten auf serbisch. Der Beschuldigte stellte nach einem zweimaligen ca. 20-minütigen Gespräch mit dem Patienten die Diagnose F43.1 PTBS als sicher fest.

Im weiteren Verlauf wurden mehrere „Zwischenberichte“ erstellt, jeweils vom Stationsarzt alleine oder einer Funktionsoberärztin (alleine) unterschrieben. Darin waren u. a. die Angaben über den Entlassungszeitpunkt des Patienten und seine Reisefähigkeit unterschiedlich, sie enthielten aber jeweils die Angabe, die Familie des Patienten wohne in der X-Stadt/Deutschland. Der beschuldigte Chefarzt hat keines dieser Atteste/Zwischenberichte unterzeichnet.

An dem Tag, an welchem vom Stationsarzt der letzte der oben genannten „Zwischenberichte“ unterschrieben worden war, hatte der Patient in Begleitung einer Sozialarbeiterin der Klinik bei dem Sozialamt vorgesprochen. Von dort wurde er einer amtsärztlichen Untersuchung zur Feststellung seiner Reisefähigkeit zugeführt. Gemäß dem Auftrag des zuständigen Regierungspräsidiums untersuchte der Amtsarzt den Patienten und stellte seine Reisefähigkeit fest. Nachdem sowohl das Verwaltungsgericht den Eilantrag zur Verhinderung der Abschiebung abgelehnt hatte, als auch das weiter angerufene Bundesverfassungsgericht negativ entschieden hatte, wurde der Patient am Folgetag in Begleitung eines Arztes auf dem Luftweg in den Kosovo abgeschoben.

Knapp zwei Wochen später erschien in einer Tageszeitung ein Bericht über die Abschiebung mit dem Titel „Aus der Psychiatrie direkt in den Kosovo“. Der Beschuldigte wird dort mehrfach wörtlich, teilweise auch indirekt zitiert. Zwei Tage später wird er im Bericht einer anderen Tageszeitung zitiert, u. a. damit, dass er in Bezug auf den Amtsarzt, der die Reisefähigkeit festgestellt hatte, äußerte: „Das verstößt gegen jede ethischen Richtlinien unseres Berufs.“

II. Rechtliche Bewertung des Gerichts

Der Beschuldigte wurde vom Berufsgericht verurteilt und mit einer „Warnung“ gemäß § 50 Abs. 1 Nr. 1 HeilBG sanktioniert. Wörtlich heißt es dazu im Obersatz: „Nach den oben getroffenen Feststellungen hat sich der Beschuldigte zum einen einer Berufspflichtverletzung schuldig gemacht, weil er es zuließ, dass der Stationsarzt A. B. ohne Rücksprache und Abzeichnung durch einen Facharzt Berichte an Behörden und das Gericht erstellte, die unrichtige Angaben bezüglich der sozialen Anamnese des Patienten C. enthielten. Außerdem hat er sich gegenüber Journalisten (...) in der Öffentlichkeit in einer Weise über einen Kollegen geäußert, die geeignet war, das Ansehen der Ärzteschaft zu beschädigen.“

Keine Anordnung der Gegenzeichnung von Attesten

Das Gericht wertet die ausgestellten Atteste insoweit als unzutreffend, als angegeben wird, der Patient wohne mit seiner Familie in X-Stadt/Deutschland. Dieser verfahrensbedeutsame Fehler hätte vermieden werden können, wenn der Beschuldigte als verantwortlicher Chefarzt die Gegenzeichnung solcher Berichte durch einen Oberarzt oder eine Oberärztin vorgeschrieben hätte, was aber nicht der Fall gewesen sei.

Dieser Fehler in der sozialen Anamnese „hätte bei Durchsicht der Berichte durch einen Oberarzt oder eine Oberärztin vermieden werden können, der oder die letztlich auch die Verantwortung für als feststehend bezeichnete Diagnosen als Fachärztin bzw. Facharzt hätte übernehmen, müssen. Eine Gegenzeichnung hätte daher nach Auffassung des Gerichts erfolgen und in der Klinik vorgeschrieben werden müssen. Diese Verantwortung oblag dem Beschuldigten“. Weiter heißt es in dem Urteil: „Damit liegt eine Berufspflichtverletzung wegen der Verantwortung für die nicht sorgfältige Ausstellung ärztlicher Zeugnisse vor (§ 25 Abs. 1 S. 1 Berufsordnung für die Ärztinnen und Ärzte in Hessen, BO).“

Unangemessener Angriff gegen einen Arztkollegen

Hinsichtlich des Anschuldigungspunktes „abwertende Äußerungen in der Öffentlichkeit gegenüber einem Arztkollegen“ bestätigt das Gericht den Vorwurf berufswidrigen Verhaltens. Es sieht in den Äußerungen in der Öffentlichkeit einen „unangemessenen Angriff gegen einen Arztkollegen, der diesen mit schwerwiegenden und ungerechtfertigten Vorwürfen überzieht“. Der Amtsarzt habe im Einklang mit seinen Berufspflichten gehandelt, wie das Berufsgericht durch Urteil vom 10. April 2019 bereits festgestellt habe. Der Amtsarzt sei nämlich nicht mit der Erstellung eines psychiatrischen Gutachtens, sondern allein mit Feststellungen zur Reisefähigkeit des Patienten beauftragt gewesen. Der pauschale Vorwurf unethischen Verhaltens und die Diffamierung des Amtsarztes beschädige das Ansehen der Ärzteschaft in der Öffentlichkeit und sei auch vorsätzlich erfolgt, so das Gericht.

Korrekte Diagnosestellung eines behandelnden Arztes

In der Zulassung der Aufnahme einer ungesicherten Diagnose in den ärztlichen Attesten/Zwischenberichten als sicher feststehende Diagnosen sieht das Gericht dagegen „keine berufsrechtlich relevante Verfehlung“. Es liege schon keine fehlerhafte Diagnose vor.

Hier differenziert das Gericht zwischen den Berufspflichten von Ärzten, die als gerichtlich bestellte Gutachter tätig werden und derjenigen Ärzte, die als behandelnde Ärzte tätig werden.

Im vorliegenden Falle der Diagnosestellung des behandelnden Arztes seien die Vorgaben im „Istanbuler Protokoll“ vom August 2012, wonach grundlegende Voraussetzung für eine Begutachtung psychischer Traumafolgen und Differenzialdiagnostik der Nachweis von mindestens fünf Jahren klinischer Tätigkeit im Bereich Psychiatrie, Psychotherapie, Psychosomatik in einer Praxisberatungsstelle oder Klinik sei, was vorliegend auf den behandelnden Assistenzarzt nicht zutraf, nicht relevant. Die Klinikärzte seien nämlich hier nicht als gerichtlich bestellte Gutachter tätig geworden, sondern als behandelnde Ärzte.

Erwägungen des Gerichts

Dem Gericht erschien das Vorbringen des Beschuldigten nachvollziehbar, dass zunächst, um die traumatherapeutische Behandlung zu ermöglichen, daran gearbeitet worden sei, für den Patienten ein Setting zu schaffen, in dem die Traumatherapie hätte begonnen werden können. Dass die behandelnden Ärzte sich nicht mit dessen Vortrag in diversen Asylverfahren zu seiner Lebensgeschichte befasst hätten, erscheine nachvollziehbar und sei nicht vorwerfbar. Vorrangig sei die Abmilderung der festgestellten schweren depressiven Phase gewesen, um die Behandlungsfähigkeit des Patienten herzustellen. Wörtlich führt das Gericht dazu aus: „Anders als gerichtlich oder behördlich bestellte Gutachter, ist der behandelnde Arzt in erster Linie dem Wohl und der Behandlung des Patienten verpflichtet und nicht dazu aufgerufen, diesen in der Situation glaubhafter Symptome einer schweren depressiven Episode der Lüge oder gar einer Simulation der PTBS zu überführen oder ihm durch Konfrontation mit angeblichen Widersprüchen das Gefühl des Vertrauens zu nehmen. Dies mag dazu führen, dass in gerichtlichen Verfahren – wie auch hier – die ärztlichen Schlussfolgerungen von den Gerichten nicht mitgetragen werden, weil diese weitergehende Kenntnisse von der Fluchtgeschichte und sich widersprechenden Angaben des Asylbewerbers haben.“

Dies ändere aber, so das Gericht, nichts daran, dass das Bestreben eines behandelnden Arztes, für seinen Patienten ein sicheres Setting zu schaffen, um die eigentliche Behandlung aufnehmen zu können, berufsrechtlich nicht zu beanstanden sei. Ein vorsätzlich gegen bessere Erkenntnis erfolgtes Handeln der beteiligten Ärzte im vorliegenden Fall habe sich für das Gericht nicht ergeben.

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Christiane Loizides, Vizepräsidentin des VG a. D., Berufsgerichtsabteilung der LÄKH

Berufsgericht für Heilberufe bei dem Verwaltungsgericht Gießen,Urteil vom 09.09.2020, Az.: 21 K 3899/18.GI.B.

2 nach § 22 HeilBG (HeilBG), §§ 2 Abs. 3, 25 Satz 1 BO