Einführung
Die interprofessionelle Visite zwischen ärztlichem Dienst und klinischer Pharmazie gewinnt in Krankenhäusern zunehmend an Bedeutung. Multimorbide Patientinnen und Patienten, komplexe Arzneimitteltherapien und die steigende Arbeitsverdichtung im stationären Bereich erfordern eine strukturierte, fachübergreifende Zusammenarbeit. Klinische Pharmazeutinnen erweitern die medizinische Perspektive um eine spezialisierte pharmakologische Expertise und erhöhen damit systematisch die Arzneimitteltherapiesicherheit.
Ablauf einer interprofessionellen Visite
Eine typische Visite beginnt mit einer kurzen interprofessionellen Besprechung. Auf Grundlage aktueller Laborbefunde, klinischer Auffälligkeiten und Medikationsänderungen werden Prioritäten festgelegt.
Während der gemeinsamen Visite bewertet das ärztliche Team die klinische Gesamtsituation, während die klinische Pharmazie gleichzeitig die medikamentöse Therapie u. a. anhand folgender Parameter prüft:
- Dosisadäquanz
- Nieren- und Leberfunktion
- Medikamenteninteraktionen
- Doppelverordnungen
- Applikationsfehler
- Leitlinienkonformität
- potenziell inadäquate Medikation (PIM), insbesondere im Alter
Gemeinsam können dann auch Indikationen ohne Arzneimittel bzw. Arzneimittel ohne Indikation identifiziert werden. Entscheidungen zur Anpassung oder Optimierung der Therapie werden unmittelbar abgestimmt und direkt in der elektronischen Patientenakte dokumentiert. Der kombinierte Blick aus medizinischer und pharmakologischer Perspektive reduziert die Fehlerquote und erhöht Qualität und Präzision der Therapieentscheidungen.
Ressourcenkontext: Bedeutung interprofessioneller Visiten angesichts knapper ärztlicher Kapazitäten
Der zunehmende Fachkräftemangel im Gesundheitswesen, hohe Arbeitslast, Schichtmodelle und steigende Dokumentationsanforderungen führen zu einer strukturellen Knappheit ärztlicher Arbeitszeit. In diesem Kontext fungiert die klinische Pharmazie als wertvolle Ergänzungsressource.
Interprofessionelle Visiten verbessern die Versorgung gerade wegen der knappen Ressourcen:
- Entlastung: Die pharmakologische Detailprüfung erfolgt durch die klinische Pharmazie – das ärztliche Team gewinnt Zeit für Diagnostik, Gespräche und Therapieentscheidungen.
- Verringerung der „kognitiven Last“: Multimedikation, Interaktionen und altersabhängige Risiken erfordern eine hohe Aufmerksamkeit, die unter Zeitdruck oft nur begrenzt verfügbar ist.
- Fehlerprävention: Unter Ressourcenknappheit steigt die Wahrscheinlichkeit vermeidbarer Medikationsfehler. Die zusätzliche Expertise wirkt hier als Sicherheitsnetz.
- Effizienz: Die unmittelbare Abstimmung vermeidet zeitaufwendige Rückfragen und Korrekturschleifen zwischen Berufsgruppen.
Entgegen der Erwartung ist die interprofessionelle Visite somit kein zusätzlicher Zeitaufwand, sondern eine effizienzsteigernde strukturelle Maßnahme, die das System entlastet und Versorgungsqualität steigert.
Kasuistik 1: Multimedikation bei multimorbidem geriatrischem Patienten
Ein älterer Patient mit Herzinsuffizienz, COPD, Diabetes und arterieller Hypertonie erhält zwölf verschiedene Arzneimittel. Während der Visite identifiziert die klinische Pharmazeutin eine Doppelverordnung und einen für COPD ungünstigen Betablocker. Die Medikation wird auf neun Präparate reduziert und leitliniengerecht angepasst.
Nutzen: geringere Nebenwirkungen, höhere Adhärenz, Entlastung des ärztlichen Teams bei komplexen Schemata.
Kasuistik 2: Dosisanpassung bei eingeschränkter Nierenfunktion
Ein Patient mit bakterieller Pneumonie erhält ein Breitspektrum-Antibiotikum in Standarddosierung, obwohl seine Kreatinin-Clearance eine deutliche Einschränkung zeigt. Die klinische Pharmazie empfiehlt eine reduzierte Dosis und eine Verlängerung des Dosierungsintervalls.
Nutzen: Minimierung nephrotoxischer Risiken, therapeutisch ausreichende Wirkspiegel.
Kasuistik 3a und b: Vermeidung schwerer Interaktionen zwischen Psychopharmaka und Analgetika
a) Zur Schmerztherapie soll ein starkes Opioid ergänzt werden. In Kombination mit einem bestehenden SSRI entsteht ein erhöhtes Risiko für ein Serotoninsyndrom. Die klinische Pharmazie schlägt ein risikoärmeres Alternativanalgetikum vor.
b) Nach chirurgischem Eingriff soll für mehrere Wochen ein antiphlogistisch wirkendes NSAR in Dauertherapie verordnet werden bei bestehender Therapie mit einem Serotonin-Wiederaufnahmehemmer (SSRI). Die Klinische Pharmazie bewertet die erhöhten Blutungsrisiken durch NSAR und SSRI. Die patientenindividuellen Blutungsrisiken werden durch den ärztlichen Dienst eingebracht. Interprofessionell wird die Verordnung eines Protonenpumpenhemmers bzw. die Umstellung auf ein anderes Antidepressivum diskutiert.
Nutzen: Vermeidung lebensbedrohlicher Interaktionen, sichere Schmerztherapie.
Kasuistik 4: Fehlervermeidung – fehlende Thromboseprophylaxe nach Operation
Nach einem orthopädischen Eingriff wurde die Thromboseprophylaxe versehentlich nicht elektronisch angeordnet. Im Rahmen der Visite wird dies entdeckt und korrigiert.
Nutzen: Schutz vor thromboembolischen Komplikationen, zusätzliche Sicherheitsbarriere im Alltag.
Kasuistik 5: Inkompatibilität von Infusionslösungen
Ein Patient auf der Intensivstation erhält parallel kalziumhaltige Infusionen und ein β-Laktam-Antibiotikum, das in Kombination ausfällt. Die klinische Pharmazie weist auf die Inkompatibilität hin und empfiehlt eine zeitlich getrennte Gabe.
Nutzen: Vermeidung lebensbedrohlicher Ausfällungen, erhöhte Therapiesicherheit.
Kasuistik 6: Potenziell inadäquate Medikation (PIM) bei älterer Patientin
Eine geriatrische Patientin erhält ein Benzodiazepin wegen Schlafstörungen, das aufgrund seines Sturz- und Abhängigkeitspotenzials als PIM eingestuft wird. Die klinische Pharmazie empfiehlt ein Ausschleichen und eine sicherere Alternative. Hierbei empfiehlt die Kollegin als Alternative ein niedrig dosiertes Neuroleptikum mit möglichst niedrigem anticholinergem Load und empfiehlt Prüfung der Umstellung auf z. B. Melatonin bei Rückkehr ins häusliche Setting zur Schlafstabilisierung.
Nutzen: Reduktion von Stürzen, höhere kognitive Stabilität, Verbesserung der Lebensqualität.
Kasuistik 7: Diskussion medikamentöser Optionen aus nicht fachspezifischen Therapiegebieten
Eine junge Patientin klagt vermehrt über depressive Symptome. Vor Verordnung eines Antidepressivums regt die Klinische Pharmazie an, zunächst auf Zyklusabhängigkeit zu prüfen. Abhängig vom Ergebnis könnte ggf. zunächst auch eine Therapie eines prämenstruellen dysphorischen Syndroms erfolgen.
Nutzen: Anregung zur Prüfung alternativer Therapiekonzepte vor Initiierung medikamentöser Verordnungen.
Kasuistik 8: Verordnungskaskaden
In der Multimedikation eines Patienten finden sich zwei Wirkstoffe mit hohem Risiko für das Auftreten von Ödemen (Substanz 1/2). Zudem findet sich in einer Folgeverordnung ein hoch dosiertes Diuretikum, die Ödeme bestehen weiterhin. Die Klinische Pharmazie identifiziert die Risikosubstanzen für Ödeme, klärt darüber auf, dass arzneimittelbedingte Ödeme nicht immer mit Diuretika behandelbar sind und prüft gemeinsam mit dem ärztlichen Dienst, ob die Ödeme in zeitlichem Zusammenhang mit der Verordnung von Substanz 1 und/oder 2 steht.
Nutzen: Identifikation von Risikosubstanzen für Verordnungskaskaden, auch aus nicht fachspezifischen Indikationsgebieten und Anregung von risikoärmeren Therapiealternativen.
Kasuistik 9: Berücksichtigung von Einflussfaktoren auf die Wirkung von Arzneimitteln
Bei einem Patienten wird eine fehlende Wirkung mehrerer sedierender Hypnotika angesprochen. Alle bisher ausprobierten, zur Nacht eingenommenen Substanzen hatten keine Wirkung auf die Einschlafstörung, standen jedoch in Verbindung mit einem starken Überhang am nächsten Morgen. Auf Intervention der Klinischen Pharmazie wird der Patient zu seinen Essgewohnheiten am Abend befragt – es stellt sich heraus, dass durch spätes Essen großer Portionen und Einnahme der Hypnotika kurz danach vermutlich die Resorption der Wirksubstanzen deutlich verzögert eintritt. Nach Änderung der abendlichen Essgewohnheiten und Anpassung der Einnahme des Hypnotikums ist die Einschlafstörung behandelt und es tritt kein Hang-Over mehr auf.
Nutzen: Berücksichtigung nicht-medikamentöser Einflussfaktoren und Berücksichtigung darreichungsformspezifischer Fragestellungen bei der Therapie
Diskussion
Die vorgestellten Kasuistiken zeigen, dass interprofessionelle Visiten sowohl klinisch als auch organisatorisch relevante Vorteile bieten. Sie erhöhen die Patientensicherheit, verbessern die Arzneimitteltherapiequalität und entlasten die ärztlichen Teams, insbesondere in Zeiten knapper personeller Ressourcen. Zudem reduzieren sie potenzielle Risiken und Folgekosten durch unerwünschte Arzneimittelwirkungen und tragen zu einer nachhaltig effizienteren Versorgung bei.
Vorteile interprofessioneller Visiten | |
Bereich | KonkreterNutzen |
Patientensicherheit | Weniger Interaktionen, Dosierungsfehler, PIM, Doppelverordnungen |
Versorgungsqualität | Leitliniengerechtere Pharmakotherapie, individuellere Anpassungen |
Ressourceneffizienz | Entlastung des ärztlichen Dienstes, weniger Korrekturschleifen |
Ökonomische Effekte | Vermeidung von UAW, kürzere Liegezeiten |
Patientenzentrierung | Mehr Zeit für Gespräche, bessere Adhärenz |
Fazit
Die gemeinsame Visite zwischen klinischer Pharmazie und ärztlichem Dienst ist ein wirkungsvolles Instrument zur Steigerung der Patientensicherheit und Versorgungsqualität im Krankenhaus. Sie stellt keinen zusätzlichen Aufwand dar, sondern eine strategisch sinnvolle Antwort auf personelle Engpässe, steigende Therapiekomplexität und den demografischen Wandel. Interprofessionelle Visiten werden damit zunehmend zu einem unverzichtbaren Bestandteil moderner stationärer Behandlungskonzepte.
Yvonne Jäger, Leitende Ärztin der gerontopsychiatrischen Station 03B, Vitos Klinikum Hochtaunus, Fachärztin für Psychiatrie und Psychotherapie, Fachärztin für Neurologie, Hygienebeauftragte Ärztin, E-Mail: yvonne.jaeger@vitos.de
Handlungsempfehlungen für Kliniken
Einrichtung fester, interprofessioneller Visitenzeiten
- bevorzugte Einbindung bei:
- geriatrischen Patienten und Patientinnen
- Multimedikation (d. h. ≥ 5 fest verordneten Wirkstoffen in der Dauermedikation)
- Patienten mit Verordnung von Risikowirkstoffen (z. B. enge therapeutische Breite, Antibiotika, Chemotherapeutika, Psychopharmaka)
- Einschränkungen von Organfunktionen wie Nieren- oder Leberinsuffizienz, aber auch in Schwangerschaft und Stillzeit
- Patienten auf Intensivstation
- ergänzende Nutzung von gemeinsam validierten standardisierten Tools, z. B.:
- AMTS-Checklisten
- PRISCUS-/Beers-Kriterien
- elektronischen Interaktionsdatenbanken
- TDM-Protokollen (therapeutisches drug monitoring)
- klare Verantwortlichkeiten für Dokumentation & Umsetzung (unterstützende, beratende Funktion durch die Klinische Pharmazie und Treffen der Therapieentscheidung durch den ärztlichen Dienst)
Typische pharmakotherapeutische Problemfelder (Auswahl)
Geriatrie
- PIM (= potenziell inadäquate Medikamente, z. B. Benzodiazepine, anticholinerge Substanzen)
- Polypharmazie ≥ 5 Arzneimittel
- eingeschränkte Nierenfunktion
- Sturzrisiko
- Über- aber auch Untertherapie
Intensivmedizin
- Inkompatibilitäten
- Antibiotische Therapie (Art und Dauer)
- enges therapeutisches Fenster
- Bedarf für Therapeutic Drug Monitoring
Innere Medizin
- Interaktionen (z. B. Psychopharmaka, Antikoagulanzien)
- Dosierungen bei Organinsuffizienz
Chirurgie/Orthopädie
- fehlende oder unzureichende Thromboseprophylaxe
- (perioperative) Antibiotikagabe, Einbindung ins ABS-Team


