Nein, das ist kein Druckfehler. Es gab wirklich bereits im Jahre 1813/14 eine Medizinische Hochschule in Frankfurt am Main, die seinerzeit „medicinisch-chirurgische Schule“ oder einfach „Specialschule“ genannt wurde. Diese nach französischem Vorbild von Großherzog Karl Theodor von Dalberg (1744–1817) gegen den Willen des Magistrats der Stadt, die seit 1806 zum Großherzogtum Frankfurt gehörte, geschaffene „Specialschule“ hatte den Rechtsstatus einer medizinischen Fakultät mit Promotionsrecht (siehe Stiftungsurkunde Abb. 1). Sie war die „medicinisch-chirurgische Fakultät“ der in Aschaffenburg gegründeten „Großherzoglichen Karls-Universität“. Die dazu notwendigen Räumlichkeiten in Frankfurt am Main waren von der Senckenbergischen Stiftung zur Verfügung gestellt worden. Auf deren Gelände in der Stiftstraße am Eschenheimer Turm waren bereits seinerzeit ein Anatomisches Theater, ein Krankenhaus („Bürgerhospital“) und außerdem eine bedeutende Bibliothek sowie Unterrichts- und Verwaltungsräume vorhanden.
Acht Professoren und ein Dozent bildeten den Lehrkörper der Spezialschule (siehe Tabelle). Am 9. November 1812 begannen die Vorlesungen des Winter-Semesters (November 1812 bis April 1813) nach einer Eröffnungsrede (Abb. 2) des zum Rektor berufenen Frankfurter Arzt und Geburtshelfer Prof. Dr. med. Carl Wenzel (1769–1827). Aber bereits im November 1813, mitten im 3. Semester, während des Zusammenbruchs der napoleonischen Herrschaft in Deutschland, wurde das Großherzogtum mit seiner „Spezialschule“ aufgelöst und „Königliche Hoheit“ (so die offizielle Anrede des Großherzogs) abgesetzt, denn er galt in Deutschland als Marionette Napoleons.
Tabelle: Die Lehrenden an der 1812 gegründeten „medicinisch-chirurgischen Specialschule“ in Frankfurt am Main |
Direktor: Prof. Dr. med. Carl Wenzel (1769–1827); Promotion 1791 an der Universität Mainz, Leibarzt Dalbergs (Professur für Geburtshilfe und „chirurgisch praktischen Unterricht am Krankenbette“) |
Professoren (Dres. med.) |
Behrends, Johann Bernhard Jacob (1769–1823), 1798–1815 Lehrer der Anatomie am Senckenbergischen Institut (Professor für Anatomie) |
Créve, Carl Caspar (1769.1853), Arzt in Eltville, seit 1812 in Frankfurt, 1810 Geheimrat des Großherzogs von Frankfurt (Professor für Anthropologie, Spezielle Therapie und „innere Krankheiten am Krankenbette“) |
Kestner, Theodor (1779–1847), Promotion 1801 in Göttingen, seit 1804 Arzt in Frankfurt (Professor für Chemie und Pharmakologie) |
Lucae, Samuel Christian (1787–1821), Promotion 1808 in Tübingen, 1812 Privatdozent in Heidelberg (Professor für Anatomie und Physiologie), 1815 Prof. für Pathologie in Marburg |
Neef(f), Christian Ernst (1782–1849), Promotion 1808 in Erlangen, seit 1809 Arzt in Frankfurt (Professor für Pathologie). |
Scherbius, Johannes (1769–1813), Promotion 1790 in Jena, danach Arzt in Frankfurt (Professor für Botanik) |
Varrentrapp, Johann Konrad (1779–1860), Promotion 1803 in Jena, 1804 Arzt in Frankfurt (Professor für Gerichtsmedizin) |
Doctor legens (Dozent): Bayrhoffer, Christian Friedrich (1783–1813), Promotion 1809 in Tübingen, danach Arzt in Frankfurt (Dozent für Augenheilkunde) |
Dank des Nachlasses des damaligen Frankfurter Professors Carl Caspar Créve ['kre:vǝ ] (Abb. 3a–c), der mir von seinem Ur-Ur-Enkel Knut Günther freundlicherweise erstmals zur Verfügung gestellt wurde, können wir die Arbeit an dieser Hochschule genauer rekonstruieren; denn „die Akten der Anstalt selbst scheinen verloren“, klagte bereits im Jahre 1907 der Frankfurter Stadtarchivdirektor Dr. Roland Jung (1859–1922).


Die Lehrenden an der neuen Specialschule waren zum größten Teil angesehene Frankfurter Ärzte (siehe Tabelle). Die Studenten waren angehende Ärzte, aber auch junge Männer, die Wundärzte (Chirurgen) und Geburtshelfer werden wollten. Bisher verlief die Ausbildung von Ärzten und Chirurgen im deutschen Sprachraum streng getrennt, die Ärzte studierten an Universitäten, die Chirurgen bei Chirurgen bzw. Barbieren und zusätzlich an speziellen Chirurgenschulen. Hier in Frankfurt wurde also nach französischem Vorbild der Versuch gemacht, beide Ausbildungsgänge zu vereinigen. Insgesamt hatten sich 42 Studenten in Frankfurt für das 1. Semester immatrikuliert. Es waren vorwiegend Landeskinder aus dem Großherzogtum. Besonderen Wert wurde auf den „praktischen Unterricht am Krankenbette“ gelegt. Jeder Professor hielt „täglich zwei Vorlesungen in den von ihm übernommenen Lehrfächern“, heißt es in der Stiftungsurkunde. „Für jedes Kollegium zu fünf Stunden in der Woche während eines Semesters werden fünf Gulden an den Professor gezahlt“. Das Studium an der Specialschule war auf acht Semester angelegt und beinhaltete die in der Tabelle aufgeführten Lehrfächer.
Von Professor Créve sind zwei Vorlesungsmanuskripte aus den Jahren 1813/14 vollständig erhalten:
- „Anthropologie oder die Lehre vom Menschen zum Gebrauch seiner Vorlesungen bearbeitet von Professor Dr. Créve Frankfurt am Mayn 1813. I. Heft: Mechanik des Menschlichen Körpers. Gehalten dem 1ten Semester nach der Installation der Großherzoglich Frankfurter medicinisch-chirurgischen Special Schule vom 4ten Jänner bis den 9ten April“. [1]
- „Specielle Therapie. Fieberlehre = Pyretologie I. Heft generelle Fieberlehre. Bearbeitet von Professor Créve in Frankfurt am Mayn zu seinen Vorlesungen im Wintersemester des Jahres 1813–1814“. [2]
Es scheint sich um Vorlesungen im wahrsten Sinne des Wortes gehalten zu haben, denn die beiden Manuskripte enthalten keine Abbildungen, keine Graphiken und keine Tabellen. Créves Anthropologie-Vorlesungen standen unter dem Einfluss der damals vorherrschenden Naturphilosophie. Zu dieser Zeit verstand man unter „Anthropologie“ den „Zusammenhang der Dinge“ im ganzen Menschen zu sehen, nicht nur das „Leibliche“, sondern auch seiner „Seelenzustände“: Dafür wurden für uns heute verwirrend viele Einzelerkenntnisse aus der Anatomie, Physiologie, Physik, Chemie, Zoologie, Medizin, Psychologie und aus der Philosophie zusammengeführt [siehe Nasse 1823]. Für die praktische Ausbildung von Ärzten und Chirurgen waren diese Vorlesungen wohl nur bedingt geeignet.
Carl Caspar Créve wurde am 28. Oktober 1769 in Koblenz als Sohn eines Beamten des Reichsgrafen Franz Karl von der Leyen (1736–1775) geboren, der dort seinerzeit noch seine Residenz hatte. Nach einem Studium der Medizin an der Universität Mainz, u. a. bei dem Anatomen Prof. Samuel Thomas Sömmering und dem Chirurgen und Geburtshelfer Prof. Johann Peter Weidmann, promovierte Créve dort 1792 zum Doktor der Medizin, Chirurgie und Geburtshilfekunst („Doctoris Medicinae Chirurgiae et Artis Obstetricia“). Von 1793 bis zur Schließung der Universität Mainz 1798 durch die Französischen Besatzer war Créve außerordentlicher Professor in Mainz. Nach der Schließung der Universität ließ er sich 1800 in Eltville als Arzt nieder. 1803 wurde er zum Fürstl. Nassauischen Hof- und Medizinalrat ernannt. 1803 führte Créve dem seinerzeitigen Fürsten (seit 1806 Herzog) Friedrich August von Nassau (1738–1816) die Wirkung des schwefelhaltigen Wassers der Weilbacher Schwefelquelle vor, in dem er das Quellwasser auf ein vorher mit unsichtbarer Tinte („essigsaurer Bleiauflösung“) geschriebenes, scheinbar leeres Blatt laufen ließ. Danach konnte der Herzog ein Huldigungsgedicht lesen und er war anscheinend nun von dem Wert dieser Quelle überzeugt. 1812 erfolgte Créves Niederlassung als Arzt in Frankfurt und gleichzeitig wurde er Professor an der Spezialschule. Nach deren Auflösung war er weiterhin als Arzt in Frankfurt und wahrscheinlich auch in Eltville tätig (den Weg legte er in der in Abb. 5 dargestellten Kutsche zurück). 1838 wurde er in Frankfurt a. M. als Herzoglich Nassauischer Geheimrat und als außerordentliches, korrespondierendes Mitglied der Landesregierung des Herzogtums Nassau (zuständig für das Medizinalwesen) erwähnt.
Zahlreiche Bücher und Zeitschriftenbeiträge stammten aus seiner Hand. Besonders beschäftige er sich mit geburtshilflichen Fragen, den knöchernen Erkrankungen des weiblichen Beckens und deren Auswirkung auf den Geburtsvorgang. Außerdem forschte er über die gerade entdeckten Wirkungen des galvanischen Stromes auf den menschlichen Körper.
Er verwendete den galvanisch erzeugten Strom auch zur objektiven Feststellung des Todes (Abb. 4). Der elektrische Reiz auf die Skelettmuskulatur wurde hier ausgelöst durch ein bogenförmiges Instrument, dessen einer Schenkel aus Silber, der andere aber aus Zink bestand. Beide Enden wurden jeweils mit trichterförmigen Enden versehen. Mit diesem galvanisch wirksamen Instrument konnten eventuell noch vorhandene Muskelkontraktionen als Zeichen des Lebens festgestellt werden. Die Abb. 4 zeigt die Anwendung des von ihm erfundenen Gerätes an einem freigelegten Musculus biceps des Oberarmes.
Für seine Forschungen erhielt Créve Ehrenmedaillen verschiedener medizinischer Fachgesellschaften (Abb. 6).

Créve starb am 07. Juli 1853 Eltville, zwei seiner Söhne wurden Ärzte, eine Tochter heiratete 1855 den Aschaffenburger Arzt Dr. Jakob Christoph Stanislaus von Czihak (1800–1888; Promotion in Heidelberg 1824). Créves Sohn Johann Baptist Karl (* 9.8.1798 in Mainz, Promotion in Heidelberg 1823; gest. nach 1863) gründete 1836 eine Orthopädische Heilanstalt in Wiesbaden, insbesondere für Kinder mit Skoliose. Sie war eine der ersten Anstalten dieser Art in Deutschland.
Quellen:
Créve, C. C.: Vom Metallreize, einem neuentdeckten untrüglichen Prüfungsmittel des wahren Todes. Leipzig und Gera: W. Heinsius 1796.
Jung, Roland: Frankfurter Hochschulpläne 1384–1866. Archiv f. Frankfurts Geschichte u. Kunst, 3. Folge, Bd. 9 (1907), p. 35–92 u. 403–406.
Nasse, Friedrich (1778–1851): Die Aufgabe der Anthropologie. Zeitschrift für die Anthropologie. Herausgegeben von Fried. Nasse 1 (1823), 1–29.
Anschrift des Verfassers:
Prof. Dr. med. Michael Sachs, Dr. Senckenbergisches Institut für Geschichte und Ethik der Medizin, Universitätsmedizin, Goethe-Universität, Paul-Ehrlich-Str. 20–22, 60590 Frankfurt am Main
[1] Folioformat, 270 nicht paginierte, doppelseitig beschriebene Blätter; am Schluss: „geendet den 8ten April 1813“. 39 Vorlesungen mit insgesamt 135 Kapiteln, jedes Kapitel 4 Seiten (2 Blätter).
[2] Folioformat, 150 nicht pag., doppelseitig beschriebene Blätter; am Schluss: „geendet den 2ten April 1814“]. 67 Vorlesungen mit insgesamt 75 Kapiteln, jedes Kapitel 4 Seiten (2 Blätter)





