Der Künstler als Cowboy mit Holzfällerhemd, Zigarette im Mund und Fisch in der Hand: In Max Beckmanns spätem, mit kräftigen Strichen zu Papier gebrachtem „Selbstbildnis mit Fisch“ (1949) drückt sich das Spannungsverhältnis zwischen Anpassung an das neue Lebensumfeld in den USA und künstlerischer Selbstbehauptung aus. Die Zeichnungen Max Beckmanns, lange als „Nebenwerk“ seiner monumentalen Gemälde betrachtet, erweisen sich im Städel Museum als Chronik eines Jahrhunderts der Veränderungen und Erschütterungen.

Wie ein privates Tagebuch spiegeln sie nicht nur die künstlerische Entwicklung Beckmanns wider, sondern auch die sein Leben prägenden Verschiebungen der europäischen Geschichte. Mit der Ausstellung „Beckmann“ rückt das Städel Museum zum ersten Mal seit 40 Jahren das zeichnerische Werk eines der bedeutendsten Maler der europäischen Moderne in den Mittelpunkt. Max Beckmann (1884–1950), für den diese Arbeiten Medium der Beobachtung, der Bildfindung, aber auch der Bild-Erfindung waren, entwickelte mit ihnen eine eigene, unverwechselbare Bildsprache.

Gezeichnetes Tagebuch einer Epoche

Rund 80 Zeichnungen – von der raschen Skizze bis zum autonomen Bild, ergänzt um wenige Gemälde, Druckgrafiken und farbige Blätter, spannen einen Bogen von Beckmanns Anfängen in Berlin bis zu seinen letzten Jahren in den USA. Das Städel verfügt über einen der herausragendsten Beckmann- Bestände weltweit. Anlass für die Ausstellung, die auch Leihgaben anderer Museen umfasst, waren ein Zuwachs der Sammlung im Jahr 2021 und die Veröffentlichung des dreibändigen Werkverzeichnisses der schwarz-weißen Zeichnungen von Max Beckmann. Die retrospektive Schau – zu sehen bis zum 15. März 2026 – folgt nicht einfach einer Werkchronologie, sondern zeigt in sechs Kapiteln die Zeichnungen in Feder, Kreide oder Bleistift als künstlerische Verarbeitung von Lebens- und Zeitereignissen.

Von Impressionismus zu Expressionismus

Sanfte Schraffuren modellieren Beckmanns Selbstportrait aus dem Jahr 1912. Kritisch, sich selbst und der Gesellschaft gegenüber, blickt der noch nicht Dreißigjährige dem Betrachter entgegen. Laternen hüllen eine – vermutlich 1913 entstandene – abendliche Straßenszene in atmosphärisches Licht: Beckmanns frühe Berliner Zeichnungen verraten seine damalige Nähe zum deutschen Impressionismus. Inhaltlich setzte er sich anhand biblischer oder mythologischer Motive mit grundlegenden menschlichen Konflikten auseinander. Spätestens die Skizzen zu „Die Nacht“ (1918/19), die einen Ausbruch mörderischer Gewalt festhalten, dessen Zeuge er vermutlich war, und als dystopische Reflexion auf die gesellschaftliche Situation Deutschlands gedeutet werden, markieren mit dem Aufkommen des Expressionismus die erste Veränderung – weg von der distanzierten Geschichtsszene hin zu persönlichen Erlebnissen.

Der Krieg als Zäsur

Der Erste Weltkrieg führt zu einem deutlichen stilistischen Wandel: Beckmanns Zeichnungen werden knapper, kantiger und härter. Reduzierte, verzerrte Formen bestimmen die Darstellung der Figuren. Anfangs hatte sich Beckmann von seiner freiwilligen Meldung zum Sanitätsdienst neue Impulse für sein Schaffen erhofft, doch die grausame Realität des Krieges holte ihn ein. Beckmann zeichnete ermüdete Soldaten, verwundete Körper und Tote. Nur wenige Striche formen Gesicht und Oberkörper eines verwundeten Soldaten mit Kopfverband aus dem Jahr 1915. Verstörend mutet die Zeichnung eines aufgebahrten Kriegstoten an, den Beckmann in starker perspektivischer Verkürzung und mit sparsamen Konturlinien gezeichnet hat. „(…) mein Lebenswillen ist augenblicklich stärker als je, trotzdem ich schon furchtbare Sachen miterlebt und selbst schon einige Male mit gestorben bin. (...) Ich habe gezeichnet, das sichert einen gegen Tod und Gefahr“, schrieb er im Oktober 1914 an seine Ehefrau in Berlin.

Perspektivische Verzerrungen

Ein intimer Moment von Nähe und Vertrautheit: In der Federzeichnung „Schäferstündchen“ hält Beckmann eine Szene privater Geborgenheit des Ehepaares Battenberg auf dem Wohnzimmersofa fest: Als der Künstler 1915 nach Frankfurt am Main kam und Zuflucht bei seinem Studienfreud Ugi Battenberg und dessen Frau Fridel fand – sie nahmen ihn in ihrer Wohnung in der Schweizer Straße 3 auf und überließen ihm auch das dortige Atelier – , verschob sich der Fokus von der Front auf das zivile Leben. Nach den traumatisierenden Kriegserfahrungen entwickelte Beckmann in den Frankfurter Jahren eine radikal verdichtete Formensprache: Flächenhafte Kompositionen und perspektivische Verzerrungen, wie etwa in den „Drei Zuschauern vor einer Bühne“ (1917), und dem Lithografiezyklus „Die Hölle“ (1919), einer der sozialkritischsten Arbeiten der Frankfurter Jahre, lassen Groteskes sichtbar werden.

Reaktion auf den Nationalsozialismus

Von 1915 bis 1933 lebte Beckmann in Frankfurt, war dort fest verortet und hatte einen Lehrauftrag an der späteren Städelschule. Er schätzte die Weltoffenheit und Toleranz der Stadt, ihre „kurzen Wege“ – Beckmann war ein leidenschaftlicher Spaziergänger-, aber auch ihre Widersprüche. Mit der Machtübernahme der Nationalsozialisten begann die zunehmende Mythisierung und rätselhafte Komplexität seiner Kompositionen. Aus der Lehrtätigkeit entlassen und als „entartet“ diffamiert, zog sich der Künstler in seine Arbeit zurück und reagierte 1933 mit einer Gruppe motivisch unterschiedlicher Aquarelle, in denen Gewalt und Begehren, Bedrohung und Verwandlung ineinandergreifen – darunter „Der Mord“ (1933), „Geschwister“ (1933/37) sowie „Schlangenkönig und Hummerfrau“(1933).

Zeit existenzieller Ängste und materieller Unsicherheit: 1937 reiste Beckmann aufgrund der immer bedrohlicheren politischen Entwicklung in Deutschland nach Amsterdam. Ursprünglich nur als Zwischenstation geplant, währte das Exil infolge des Zweiten Weltkriegs fast zehn Jahre lang. Eine Zeit, in der ein feines Netz aus Literatur und Selbstreflexion entstand: In den 143 Federzeichnungen zu Goethes „Faust II“, von denen die Ausstellung eine kleine Auswahl zeigt, verschmolz Beckmann die eigene Exilerfahrung mit den großen Themen des Dramas: Macht und Ohnmacht, Geschlechterkampf und der ewige Handel zwischen Erkenntnis und Verblendung. Bildmäßig komponierte Arbeiten wie „Haltestelle“ (1945) spiegelten die Erfahrung von Isolation und Stillstand im Exil. In „Champagnerglas“ (1945) verwandelte er sein Lieblingsgetränk in einer surrealen Vision zu einer symbolischen Ursuppe des Menschen.

Künstlerische Eigenständigkeit

1947/48 wagte der Künstler einen Neuanfang in den Vereinigten Staaten; bis zu seinem Tode 1950 lebte er in New York. Während um ihn herum Abstraktion die zeitgenössische Kunst dominierte, blieb er dem Figurativen und der erzählenden Komposition treu – eine Eigenständigkeit, die in späten Zeichnungen wie „Selbstbildnis mit Fisch“ oder „Rodeo“ (1947) deutlich wurde, in denen er sich mit seiner neuen Umgebung auseinandersetzte. Die Körper waren noch kantiger geworden, die Räume klar konturiert, aber die existenzielle Unruhe blieb.

Wer die sechs Kapitel der Ausstellung durchmisst – von Berlin über die Schützengräben, die Frankfurter Ateliers, die Amsterdamer Wohnungen bis zu den Jahren in den USA – , begegnet einem großen Zeichner und Chronisten, der sich der Weltdeutung verpflichtet sieht. Die Schau schließt programmatisch mit „Backstage“ (Hinter der Bühne), 1950, einem der letzten unvollendeten Gemälde Beckmanns, und dem Bildnis seines Freundes Georg Swarzenski (1950), Direktor des Städelschen Kunstinstituts, der 1918 den ersten großen Beckmann-Bestand im Städel aufgebaut hatte.

Katja Möhrle

Informationen: www.staedelmuseum.de