Die Zahl der Pflegebedürftigen in Deutschland wächst – damit wird der Bedarf an pflegenden Fachkräften immer größer. Bleibt es bei dieser Entwicklung werden im Jahr 2035 eine halbe Million Fachkräfte fehlen. Am 13. Juli wurde im Rahmen des 157. Bad Nauheimer Gesprächs diskutiert, wie einer „Pflegekrise“ entgegengewirkt werden könnte.

Der Pflegeaufwand steigt – in jeder Hinsicht

Die Welt habe sich verändert, so Prof. Dr. h.c. Christel Bienstein, Präsidentin des Deutschen Berufsverbandes für Pflegeberufe (DBfK) e. V. und Mitglied im Präsidium des Deutschen Pflegerates (DPR) auf die Frage, wie das Pflegedefizit denn zustande käme. Einerseits habe sich die Lebenserwartung verbessert, konkretisiert Bienstein. Andererseits sei der Pflegeaufwand heutzutage ein anderer. Wo früher Gallensteine versorgt werden mussten, gehe es heute um offene Beine und Diabetes – pflegeintensivere Beschwerden. Gerade im stationären Nachtdienst sei die Situation oft katastrophal. Hier kämen schon mal 52 Patientinnen und Patienten auf eine Person. Anders sei es in Magnetkrankenhäusern, also Kliniken, die sich durch ihre besonders hohe Pflegequalität auszeichnen – für Bienstein ein Positivbeispiel. Diese Häuser hätten keine Sorgen, pflegerisches Personal zu bekommen. Nicht nur wegen der Qualität der pflegerischen Führung.

Alles eine Sache der Führung

In der Langzeitpflege zeichnet sich ein ähnliches Bild ab. Die Zeit sei extrem knapp bemessen, berichtet Markus Förner, Krankenpfleger und Dipl.-Pflegewirt (FH), Geschäftsführer des Hufeland-Hauses, Frankfurt am Main. Pro Bewohner habe man 1,24 Stunden am Tag. Diese Zeit beinhaltet neben der Pflege auch die Dokumentation, Medikation und Dienstübergabe. Also keine Zeit für Sonderwünsche. Falle jemand aus, müsse kompensiert werden. Und so wie es aussieht, fällt häufig jemand aus. So beruft sich Förner auf eine Studie der Techniker Krankenkasse, die aufzeigt, dass der krankheitsbedingte Personalausfall in der Pflege überdurchschnittlich hoch ist. Im vergangenen Jahr lag die Anzahl der Fehltage in Pflegeberufen 57 % über dem bundesweiten Durchschnitt.

Es sei keine Seltenheit, so Förner, dass viele seiner Kolleginnen und Kollegen trotz langer Arbeitszeiten nebenbei geringfügigen Beschäftigungen nachkommen müssen, um ein Einkommen zu erzielen, dass es erlaube in einer Stadt wie Frankfurt leben zu können. Er habe den Eindruck, dass im deutschen Pflegesystem, systematisch motivierte und qualifizierte Menschen verheizt und krank gemacht werden.

Selbstverwaltung als Lösung?

Was fehle, sei das Mitspracherecht, waren sich Bienstein und Förner einig. Pflegerische Belange seien bei Entscheidungen wenig eingebunden. Förner spricht von der „Demokratisierung der Pflege“. Bienstein sieht eine Lösung in der pflegerischen Selbstverwaltung. Bundesweit ist diese bereits umgesetzt. Eine Bundespflegekammer wurde im Jahr 2019 gegründet. Sie vertritt die Interessen der Pflegefachkräfte auf Bundesebene. Auch auf Landesebene hat eine Entwicklung stattgefunden – wenn auch verhalten. In einigen wenigen Ländern wurden Landespflegekammern eingerichtet. In Niedersachsen und Schleswig-Holstein wurden die jeweiligen Kammern bereits wieder aufgelöst.

Persönliche versus strukturelle Wertschätzung

Wenn es um den Bereich Pflege geht, geht es auch immer wieder um das Thema Wertschätzung – so auch an diesem Abend. Pflegeberufe würden häufig nicht so wertgeschätzt, wie beispielsweise der ärztliche Beruf, so Bienstein. Einem Widerspruch aus dem Publikum folgend, wurde konkretisiert: Im Grunde mangele es nicht an persönlicher Wertschätzung. Vielmehr ging es um die strukturelle Wertschätzung und gesellschaftliche Anerkennung – auch in monetärer Hinsicht.

Oft hieße es ‚Warum beschweren sie sich denn? Sie werden doch wertgeschätzt, wir klatschen für sie und trotzdem sind sie nicht zufrieden‘, meldete sich eine Teilnehmerin aus dem Publikum zu Wort. Dass es nicht aber darum, sondern um die strukturelle Anerkennung auch von Arbeitgeberseite gehe, sei wichtig zu differenzieren.

Was muss sich ändern?

In der Pflege wie auch in anderen Bereichen des Gesundheitswesens muss sich strukturell etwas ändern, um einer drohenden Versorgungslücke entgegenzusteuern, ist Fazit des Abends. Nötig sei es, Versorgungs- und Arbeitszeitmodelle zu überdenken. Dabei setze sie große Hoffnung auf die Digitalisierung und Softwareentwicklung, so Bienstein. Mehr Wissenschaft in der Pflege, war Bienstein ein weiterer wichtiger Punkt. Ihr zufolge würden noch zu wenige Kolleginnen und Kollegen forschen. Förner wünscht sich künftig einen weniger bürokratischen Umgang mit Pflegepersonal aus dem Ausland und eine schnellere Integration von Fach- und Hilfskräften aus Drittstaaten. Wichtig seien insbesondere Wohnraumprogramme, um in Städten wie Frankfurt bei der Wohnungssuche zu unterstützen.

Marissa Leister