Rezension des Artikels „In Defense of Merit in Science“

29 Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler aus Universitäten und Forschungseinrichtungen in Australien, Deutschland, Frankreich, Großbritannien, Israel, Neu-Seeland und den USA beschreiben im Nachwort einer umfangreichen Übersichtsarbeit als „traurigsten Kommentar zum Zustand der akademischen Welt“, dass ihr Artikel nur in einer Zeitschrift veröffentlicht werden konnte, die sich der Verbreitung „kontroverser“ Ideen verschrieben hat. Das macht natürlich neugierig.

Worum geht es? Die Autorinnen und Autoren halten fest, dass Meriten, also sich in anerkannter Weise wissenschaftlich verdient gemacht zu haben, eine zentrale Säule der liberalen Erkenntnistheorie, des Humanismus und der Demokratie seien. Wenn es darum gehe, wissenschaftliche und technologische Fortschritte zu erzielen, Leiden zu verringern, soziale Unterschiede zu verringern und die Lebensqualität weltweit zu verbessern, trage die Beachtung von Meriten zur Effektivität wissenschaftlicher Einrichtungen bei. Sie beklagen Versuche, die Kernprinzipien der liberalen Erkenntnistheorie zu untergraben und Leistung durch unwissenschaftliche, politisch motivierte Kriterien zu ersetzen. Dafür erklären sie die philosophischen Ursprünge dieses Konflikts, dokumentieren das Eindringen von Ideologien in wissenschaftliche Institutionen, erörtern die Gefahren der Abkehr vom Leistungsprinzip und zeigen einen alternativen, auf den Menschen ausgerichteten Ansatz zur Beseitigung bestehender sozialer Ungleichheiten auf.

Der Fachartikel zeugt von einer ausgeprägten fachlichen Expertise der Autorengruppe in der Bewertung eines wichtigen Themas für die Validität, den Erfolg und die Anerkennung wissenschaftlichen Arbeitens und deren Ergebnisse. Die Publikation selbst ist eher ein Diskussionspapier bzw. ein kritisches Essay mit pointierter Ausdrucksweise als eine wissenschaftlich-narrative Übersicht oder ein Original-Artikel im klassischen Sinne. Das dürfte auch der Hauptgrund sein, warum sie sich nicht in einigen anerkannten wissenschaftlichen Journals unterbringen ließ. Dennoch liefert sie einen wichtigen Impuls, da sie ein mehr denn je aktuelles Thema zur Diskussion stellt und einige mögliche Versäumnisse in der Wissenschaft benennt: Wird die Erfüllung der Verantwortung der Wissenschaft als Schlüssel zur Lösung der oben genannten Probleme in unserer Welt durch den Zusammenstoß zwischen liberaler Erkenntnistheorie und identitätsbasierten Ideologien behindert? „Wissenschaft ist nur ein Werkzeug, das zum Guten und zum Schlechten eingesetzt werden kann. Es liegt in unserer Verantwortung als Gesellschaft, sie verantwortungsbewusst, ethisch korrekt und effektiv zu nutzen.“

Tab. 1: Merton’sche Prinzipien für wissenschaftliche Vorhaben, CUDOS, nach Robert K. Merton, The Sociology of Science

Communalism (C) = Kommunalismus: Alle Wissenschaftler sollten in gemeinsamem Besitz wissenschaftlicher Güter sein (intellektuelles Eigentum), um gemeinschaftliche Zusammenarbeit voranzutreiben. Geheimhaltung ist das Gegenteil dieser Norm.

Universalism (U) = Universalismus: Wissenschaftliche Gültigkeit ist unabhängig von soziopolitischem Status und persönlicher Haltung der Mitwirkenden.

Disinterestedness (D) = Uneigennützigkeit: Wissenschaftliche Institutionen agieren für das Wohl einer gemeinschaftlichen wissenschaftlichen Unternehmung anstatt für die persönliche Bereicherung von Individuen innerhalb der Institutionen.

Organized Skepticism (OS) = Organisierter Skeptizismus: Wissenschaftliche Behauptungen sollten einer genauen kritischen Prüfung unterzogen werden, bevor sie akzeptiert werden: sowohl in Bezug auf den methodologischen als auch auf den institutionellen Verhaltenskodex.

Tab. 2: Liberale Erkenntnistheorie versus Kritische Erkenntnistheorie der sozialen Gerechtigkeit/Liberal enlightenment versus Critical Social Justice epistemology

Liberale Erkenntnistheorie

Kritische Erkenntnistheorie der sozialen Gerechtigkeit

vorläufige Wahrheit ist erzielbar

bestreitet die Existenz objektiver Realität

Fallibilismus: Jeder kann jederzeit falsch liegen

ersetzt das Konzept der Wahrheit aufgrund „vielfältiger Narrative“ durch „alternative Wege des Wissens“

Objektivität: Ablehnung jeder Theorie, die nicht durch die Realität bewiesen oder widerlegt werden kann

behauptet, dass Wahrheitsansprüche lediglich Machtansprüche seien

Verantwortlichkeit: die Offenheit, Fehler einzuräumen und zu korrigieren

betrachtet gelebte Erfahrung und Subjektivismus als Basis des Wissens

Pluralismus: Aufrechterhaltung intellektueller Diversität, um die Chance auf Wahrheitsfindung zu maximieren

lehnt ab, dass eine Theorie durch einen empirischen Prozess bewiesen oder widerlegt werden kann

 

verweigert die Legitimität anderer Standpunkte

lässt keine Korrekturen von außerhalb zu (geschlossenes System)

Quelle: Tab. 1 & 2 sind aus Abbot D et al. „In Defense of Merit in Science“ entnommen, dort sind es Figures 1 & 3. Übersetzungen: Katja Kölsch

Der Artikel betont jedoch auch „Meinungen“ der Autorengruppe. Es wird beispielsweise beschrieben, dass Europa und die USA „anfällig für die Ideologie von Identität“ seien. Als Beispiele werden Fördermittel genannt, die daran gebunden seien, dass sie auch unterrepräsentierten Minderheiten zugutekommen sollen; oder dass Zusagen zur Förderung der Vielfalt gemacht werden. Erwähnt wird auch die Alba-Erklärung zu Gleichberechtigung und Inklusion, in der „behauptet“ würde, dass Voreingenommenheit gegenüber Frauen und Minderheiten in den MINT-Fächern allgegenwärtig und ein soziales Engineering erforderlich sei. Andererseits wird festgehalten: „Damit die Wissenschaft erfolgreich sein kann, muss sie sich um die unideologische Suche nach objektiver Wahrheit bemühen. Wissenschaftler sollten sich frei fühlen, als Privatpersonen politische Projekte im öffentlichen Raum zu verfolgen, aber nicht ihre persönliche Politik und ihre Vorurteile in die wissenschaftliche Arbeit einbringen.“ Es geht also um den Spagat zwischen den berechtigten Interessen der Gesellschaft nach einer breiten, möglichst vorurteilsfreien Teilhabe aller an der Wissenschaft, und andererseits den hoch gesteckten Zielen zur Voraussetzung möglichst evidenzbasierten wissenschaftlichen Arbeitens. „Obwohl kein System garantiert, dass alle Vorurteile beseitigt werden können,“ seien „leistungsbezogene Systeme das beste Instrument, um sie abzuschwächen. Darüber hinaus fördern sie den sozialen Zusammenhalt, da sie nachweislich ein Höchstmaß an Fairness bieten.“ Es wird aber zugegeben, dass die Leistungsgesellschaft unvollkommen ist und nicht immer die Besten und Klügsten gewinnen würden. Aber die Vorstellung, dass die Leistungsgesellschaft nichts weiter als ein Mythos sei, wäre „nachweislich falsch, ja absurd. Wäre sie nur ein Mythos, könnten Hochschulberufungen und -einstellungen ohne Rücksicht auf die Qualifikationen der Bewerber erfolgen, und Studierende oder Personal könnten nach dem Zufallsprinzip ausgewählt werden.“

Für den „Prozess der Entpolitisierung der Wissenschaft und der Stärkung leistungsorientierter Praktiken“ unterbreitet die Autorengruppe sechs konkrete Vorschläge oder „Leitlinien“ (hier in Stichworten):

(I) Vergabe staatlicher Forschungsgelder ausschließlich auf der Grundlage von Leistungen,

(II) ,Auswahl des Lehrpersonals nur nach wissenschaftlichen und nicht nach ideologischen Gesichtspunkten,

(III) Zulassungen / Einstellungen / Beförderungen auf der Grundlage anerkannt verdienter Leistungen sowie frei von ideologischen Tests,

(IV) Veröffentlichung und Rücknahme wissenschaftlicher Arbeiten auf der Grundlage wissenschaftlicher und nicht ideologischer Argumente oder aufgrund von öffentlichem Druck,

(V) Richtlinien zum Schutz der akademischen Freiheit und der freien Meinungsäußerung, die sich an den bewährten Praktiken orientieren, die von unparteiischen Organisationen für Meinungsfreiheit und akademische Freiheit, wie der Foundation for Individual Rights and Expression, propagiert werden,

(VI) keine Stellungnahmen von Universitäten und Berufsverbänden zu sozialen und politischen Themen, die für deren (wissenschaftliche) Arbeit relevant sind.

Diskussion

Die eigenen Standards und wissenschaftlichen Maßstäbe sind stets im Wandel. Wissenschaft und deren Folgen sind nicht wertfrei und werden auch von Kultur und Politik beispielsweise durch Förderprogramme, Leitlinien und Regularien beeinflusst. Sie kontinuierlich zu hinterfragen ist international gelebte Praxis – und dies ist auch das Recht einer Gesellschaft, in der sie sich entfalten kann. Selbst der „citation index“ als möglichst hochwertiges und „gerechtes“ Kriterium, um „sogenanntes“ Expertenwissen von echter Expertise besser unterscheiden zu können, ist immer wieder Gegenstand von Kontroversen wegen seiner Fehlanreize und einem möglichen falschen Blickwinkel. Zum Beispiel weil die sog. kleineren Fächer durch die Logik des Systems bedingt benachteiligt und große oder gerade einmal ge„hype“te“ Fächer und Themen – wie z. B. die Künstliche Intelligenz mit wechselseitig hoher Zitierrate der Autoren untereinander – übermäßig profitieren. Bei der Höhe von eingeworbenen Förder- und Drittmitteln wird das als schwaches Auswahlkriterium für „Evidenz statt Eminenz“ noch deutlicher. Umgekehrt wird der Qualität der Lehre als Auswahlkriterium oft viel zu wenig Beachtung gezeigt. Für die Humanmedizin also vor allem eine gute Medizin- und Gesundheitspädagogik, nicht zuletzt um den besten wissenschaftlichen Nachwuchs zu gewinnen, zu fordern, zu fördern und zu halten.

Bibliografische Angaben/Link

Originalartikel mit allen Referenzen bzw. Literaturangaben hier: https://journalofcontroversialideas.org/download/article/3/1/236/pdf (Zugriff am 14.6.2023)

Abbot, D.; Bikfalvi, A.; Bleske Rechek, A.L.; Bodmer, W.; Boghossian, P.; Carvalho, C.M.; Ciccolini, J.; Coyne, J.A.; Gauss, J.; Gill, P.M.W.; Jitomirskaya, S.; Jussim, L.; Krylov, A.I.; Loury, G.C.; Maroja, L.; McWhorter, J.H.; Moosavi, S.; Nayana Schwerdtle, P.; Pearl, J.; Quintanilla Tornel, M.A.; Schaefer, H.F.,  III; Schreiner, P.R.; Schwerdtfeger, P.; Shechtman, D.; Shifman, M.; Tanzman, J.; Trout, B.L.; Warshel, A.; West, J.D.

In Defense of Merit in Science. Journal of Controversial Ideas 2023, 3(1), 1; doi:10.35995/jci03010001.

Korrespondierender Autor/Corresponding author: krylov@usc.edu

Fazit

Lesenswert ist der Beitrag in jedem Fall, sowohl für Befürworter als auch für Gegner dieses Ansatzes. Ob der Umfang und die Ausführungen gerechtfertigt sind, muss jeder für sich entscheiden.

Prof. Dr. med. habil. Andreas J. W. Goldschmidt, Gastwissenschaftler am Institut für Arbeits-, Sozial- und Umweltmedizin (IASU) des Fachbereichs Medizin der Goethe-Universität in Frankfurt am Main